2024-12-08

ANTONIO CARLOS JOBIM Kaskaden, Wagnisse, Lacke, Erschöpfung, und wieder von vorne

A Certain Mr. Jobim (1967)
 
Die große und zum Bersten unergiebige Lärmpolitik-Sause möchte ich heute fortsetzen mit dem bis dato völlig bekannten Antonio Carlos Jobim.
 
Nur ein paar hundert Millionen Menschen kennen die Lieder dieses nonchalanten Brasilianers. Höchstens der halbe Erdball hat eine Platte von ihm im Schrank. Daher starb Antonio Carlos Jobim am 8. Dezember 1994 an einem Herzinfarkt als Folge einer Blasenkrebsoperation als völlig vermögender Mann. HSeine Musik ist so unbekannt, dass sie selten nur einmal von den Bewohnern der rechtwinklig angeordneten Straßenzüge zwischen Leblon und Ipanema gesummt wird. Schlendert man durch New York, Tokyo oder London, sind seine Songs aus kaum mehr als siebenundneunzig Prozent aller Schnöselcafes zu hören. Begibt man sich auf die beschwerliche Suche nach seinen Platten, findet man sie in zufällig ausgewählten Tonträger-Geschäften nach sekundenlangem Durchforsten, denn sie sind extrem selten selten. Ich denke daher, ich kann beträchtliche Checkerpunkte sammeln (die ich alle verloren habe, seit ich statt Roddy Frame Roddie Frame schrieb), wenn ich diesen fast völlig unvergessenen Komponisten und Pianisten dem vollständigen Erinnern entreisse.
 
Man könnte einige Jobim-Platten in den erlauchten Club der Jahrhundertalben auswählen, weil sie sich im Aufbau gleichen: Ein Bossa Nova-Groove wird mit genau austarierten Melodien und Harmonien getränkt, die Jobim in wochenlanger Arbeit bis zur Perfektion bearbeitet. Dann setzt er sich mit dem Arrangeur und Orchesterleiter zusammen und entwickelt die Arrangements. Die fallen dann entweder sehr voll aus (Sinatra-Arrangeur Nelson Riddle), verspielt und TV-Show-kompatibel (Eumir Deodato) oder weich und transparent (Claus Ogerman).
 
Ich habe „A Certain Mr. Jobim“ von 1967 hier aus zwei Gründen ausgewählt: Wegen Claus Ogerman und wegen „Surfboard“. Denn Ogerman ist mir der liebste Jobim-Arrangeur, weil man aus seinen Arrangements am besten die Klasse, die Wagnisse und die wirkliche Schönheit in Jobims Musik heraushören kann. Hört euch „Bonita“ in der ersten und dann in der von Ogerman arrangierten Fassung an. Wie Ogerman nach den ersten Versen („What Can I Say To You Bonita/ What Magic Words Would Capture You?“) den Samtvorhang öffnen lässt, eine Zehntelsekundenpause setzt, aus der heraus das ganze Gebilde dann mit einem leichten Streicherwirbel wieder in die Spur kommt. Dabei ist er immer darauf bedacht, das dem Bossa Nova eigene Bestreben nach gesanglicher Zurückhaltung, minimaler Lautstärke, leicht klingendem, aber vertracktem Beat und einer gewissen wohligen Getragenheit zu erhalten. Und es ist verdammt schwer, sich mit einem Streichorchester im Rücken zurückzunehmen. Jobim selbst reiht sich mit seiner dunklen, rauchigen Stimme ein in die Riege anderer grosser variationsarmer Stimmen wie der von Lou Reed, Lee Perry oder Joao Gilberto. Noch mehr gäbe es zu schreiben. Über das wundervolle Wagnis etwa, in „Off Key (Desafinado)“ wirklich neben der Spur zu singen, ohne daraus einen (für einen guten Bossa Nova unverzeihlichen) Novelty-Gag zu machen, oder über das fantastische Pianospiel Jobims.
 
Mein Ritual bei „A Certain Mr. Jobim“ sieht immer so aus, dass ich die Platte ganz durchhören will, aber doch erstmal zu „Surfboard“ skippe, das ich so lange höre, bis ich erschöpft bin und dann lasse ich das ganze Album in meinem kraftlosen Zustand durchspielen. „Surfboard“ ist extraordinär, mit seiner seltsamen Keyboard-Kaskade, dem unglaublichen Mittelteil, wenn plötzlich alles zu stehen beginnt, sich wieder anfängt zu bewegen, sich aber noch nicht ganz traut, sich schüchtern zurückzieht und es schliesslich doch wagt und in den Song zurückfindet. Man kann auch eine Analogie zum Wellenreiten darin sehen, wenn eine Welle zu kommen scheint, sie sich aber doch nicht ausprägt und man auf die nächste Welle wartet, die einen wieder trägt.
 
Insider wie ich besitzen „A Certain Mr. Jobim“ natürlich als Super-Billig-Pressung von Pickwick Records, mit unterirdischem Cover und falschem Titel („A Certain Mister Antonio Carlos Jobim“). Ich empfehle aber die CD „Composer“ (erschienen in der Reihe „Warner Archives“), auf der die beiden Jobim-Alben „The Wonderful World Of …“ und „A Certain Mr. Jobim“ zusammengefasst sind. Ausserdem sind noch zwei Songs von „Love, Strings And Jobim“ enthalten, dazu sehr informative Linernotes und vier alternative Versionen. Man kann hier an einigen Songs (z.B. „Surfboard“) die Arrangements von Ogerman gegen andere abgleichen. Eine sehr lohnenden Beschäftigung, denn auch auf „Wonderful World…“ sind zwar entzückende Arrangements anzutreffen, aber es wird noch augenfälliger (ohrenfälliger?), mit welch hochwertigen Lacken Claus Ogerman den Schmelz modelliert und den Bossa-Beat betont hat, dass es einem echt die Espandrillos anzieht. Wieviel Arbeit muss es Jobim und Ogerman gekostet haben, diese verflucht brillanten Kompositionen auf solch schwebende Fundamente zu stellen!