2024-12-09

BETH GIBBONS raus in die endlichkeit

Beth Gibbons – Lives Outgrown (2024)

Wenn man die Kälte liebt, gegen die Beth Gibbons ansang, als sie mit Portishead berühmt wurde, dann könnte einem auf „Lives Outgrown“ etwas fehlen. Stattdessen unterstützt ein analoges Instrumentarium sie nach Kräften, ist in jahrelangen Prozessen auf- und wieder ab- und wieder auf die Essenzen heruntergebrochen aufgebaut worden. Die Reibung wird auf „Lives Outgrown“ aber trotz der musikalischen Entfernung zur portisheadschen Kälteelektronik und trotz der vielen überwältigend schönen Harmonien nicht nur über die Thematik gewuppt. Metall folgt auf Holz. Ein bisschen Tom Waits ab seiner Phase, als das Piano das Trinken einstellte, ein wenig Ligeti vielleicht, ein bisschen Harry Partch („Wir bauen uns ein Perkussionsdingens“, allerdings frei von Partchs Hang zur Comic-Oper), fernkontinentale Streicherlinien, und nicht nur ein bisschen Altersreflektionen: Zeichen des Verfalls, verlorene Erinnerungen, die bewusst machen, dass nichts Bestand hat. Die Last des gelebten Lebens wiegt schwer auf „Lives Outgrown“, der Titel sagt es schon. Wenn man dem Leben entwachsen ist, bleibt nicht mehr viel. Wobei der sich nähernde Tod im Alter ja oft erst die Bedingung schafft, um über die Kipppunkte des Leben reflektieren zu wollen.

Für das unfreiwillige Bad in der Vergänglichkeit werden manchmal auch etwas kitschige Momente bemüht, wenn etwa in „Rewind“ die ‚süße Mutter Natur‘ besungen wird, der von ‚uns‘ bereits unwiederbringlicher Schaden zugefügt worden ist (wirklich von ‚uns‘ allen, oder nicht doch eher von einigen sehr viel und von anderen so gut wie gar nicht?). Was aber im besagten Track wieder durch eine nochmal ganz besondere Widerborstigkeit in der Musik aufgefangen wird, die so auch Scott Walker hätte einfallen können.

„Lives Outgrown“ ist aufs Feinste arrangiert und filetiert. Selbst in den Momenten, wo sich die Musik aus Folk-Überhängen herausbewegt und sich freieren Experimenten verschreibt, verliert sie nicht die Kontrolle, ohne jedoch dadurch etwas aus Rücksicht zurückzuhalten. Ich bin meist skeptisch, wenn sich Werke den Zweifeln und der Vergänglichkeit widmen und trotzdem sehr austariert wirken. Als wäre der innere Schmerz in Wirklichkeit gar kein so einnehmender Zustand, erlaubt er es doch, solch feingeistige, überlegte Musik zu produzieren. Das darf aber ruhig mein eigenes kleines Problem mit „Lives Outgrown“ bleiben. Zuviel Perfektion hält mein Nervenkostüm nur schwer aus. Andererseits: Wieso soll ein Album, das sich thematisch mit der Endlichkeit beschäftigt, leicht auszuhalten sein? Vielleicht ist „Lives Outgrown“ sogar so etwas wie ein Versuch, der Endlichkeit ein Album entgegenzusetzen, das sich zwar mit ihr beschäftigt, sie aber für einen sehr langen Augenblick überdauern kann.