2024-03-19

Dylan, der späte, und ich, der Spätversteher

Im Forum des deutschen Rolling Stone-Magazins hat es eine Umfrage zu den besten Alben Bob Dylans gegeben. Jeder User durfte die 10 besten Dylan-Alben nennen. Die Ergebnisse auf den vorderen Plätzen waren erwartbar, aber durchaus auch erfreulich.

RS Forum Ergebnis:

01. Highway 61 Revisited (1965)
02. Blood On The Tracks (1975)
03. Blonde On Blonde (1966)
04. Bringing It All Back Home (1965)
05. Desire (1976)
06. Time Out Of Mind (1997)
07. The Freewheelin‘ Bob Dylan (1963)
08. John Wesley Harding (1967)
09. Nashville Skyline (1969)
10. „Love And Theft“ (2001)
11. The Times They Are A-Changin‘ (1964)
12. Another Side Of Bob Dylan (1964)
13. Modern Times (2006)
14. Oh Mercy (1989)
15. The Basement Tapes (1975)
16. Street-Legal (1978)
17. New Morning (1970)
18. Rough And Rowdy Ways (2020)
19. Planet Waves (1974)
20. Slow Train Coming (1979)

Quelle: RS-Forum

Time Out Of Mind und „Love And Theft“ in den Top 10, da kann ich nicht meckern. Mit Modern Times auf 13 bin ich auch zufrieden, wiewohl es ja meine Nummer 1 ist, weil ich bekanntlich besonders ein Anhänger des Spätwerks bin – und eben auch erst spät, so Mitte der Nullerjahre, einen Schlüssel zu Dylan fand. Als Dylan Time Out Of Mind veröffentlich hat, war er ungefähr so alt wie ich heute, vielleicht liegt mir deswegen der späte Dylan. Warum soll ich mir von einem 25-Jährigen was erzählen lassen, wenn mir schon ein Mittfünfziger genug Aufgaben zur Beschäftigung liefert? Dann habe ich mir aber doch ziemlich schnell auch von einem 25-Jährigen was erzählen lassen. Und gerade lass ich mir von einem Anfangvierziger den Springtime in New York erzählen. Es hört nie auf, Zeiten vermischen sich, und gerade der späte Dylan ist ein Meister des Verschränkens der Zeiten und Bedeutungen, hin zum allumfassenden, fast schon archaischen Welttheater, als das er seine Alben seit einigen Jahren konzipiert. Ungeheuerlich aus welchen Tiefen er mittlerweile seine Themen holt. Tempest zum Beispiel ist eines der dunkelsten Alben der American Gothic, das ich kenne. Das habe ich aber erst vor kurzem so richtig kapiert, damals das Album sogar schnell wieder verkauft, weil ich dessen Qualität nicht gesehen hatte. Diese Einsicht ist ganz neu, deswegen ist Tempest erst im Nachhinein in meinen Top 10 gelandet:

Lärmpolitiks Top 10 (+ Bootleg-Series, die aber nicht numerisch gewertet werden durften):

01 Modern Times
00 The Bootleg Series Vol. 8 – Tell Tale Signs (2CD + Bonus)
00 The Bootleg Series Vol. 4 – Live 1966
02 Bringing It All Back Home
03 „Love And Theft“
04 Time Out Of Mind
05 Highway 61 Revisited
06 Blonde On Blonde
07 The Basement Tapes
08 Blood On The Tracks
09 Nashville Skyline
00 The Bootleg Series Vol. 5 Rolling Thunder (2CD)
10 Tempest

Quelle: RS-Forum

Es ist nicht einfach, Dylans Spätwerk von meiner Geschichte getrennt zu beurteilen, glaube aber, dass er da nochmal Tableaus erreicht hat, die er vorher vielleicht nur angedeutet hat: Die Gesamtheit der amerikanischen Musikkultur, ihre Verzerrungen von Shakespeare und antiken Dramen genauso ernst zu nehmen wie Shakespeare und antike Dramen selbst. Dann das Ganze zu mixen, als würde alles zeit- und ortsgleich passieren – Hank Williams, Charlie Patton, Shakespeare, John Lennon, die Ermordung von JFK und der Untergang der Titanic mit Homer an Bord, am Ufer des Mississippi anlegend, Erinnerungen an die japanische Mafia aus Romanzitaten im Schlepptau, während die ruhelosen Geister des American Civil War Blut spuckend über die grünen Felder ziehen, und was weiß ich noch alles, was ich selbst hier gerade miteinander verschränke, weil ich es bei Heinrich Detering gelesen habe.

Dazu diese blendende Band, die 5000 Jahre alte Akkorde aus dem Reich der Toten erweckt, und die alles spielen kann, wirklich alles, die traurigsten Elegien, die sparsamsten Begleitungen und auch große, alte Rocker. Da hat sich in den letzten 20 Jahren nochmal ein Panoptikum aufgebaut, in das Dylan vollkommen eingeht. Als hätte er es jetzt endlich geschafft, sich in seine Figuren einzureihen und nicht mehr aus ihnen heraustreten zu müssen. Ganz groß, kann ich nicht anders sagen.