2024-10-15

HONIG: atem anhalten

HONIG: treehouse

2008

Auch wenn ich um den subversiven Charakter weiß, der einen mit Metaphern von Bienen und Honig umschwirren kann, möchte ich dem Stefan Honig manchmal seine Freundlichkeit ganz sanft um die Ohren hauen oder wie Obelix kräftig am Baum rütteln, damit der liebe Mensch da oben aus seinem Baumhaus auf den harten Boden der Wirklichkeit herunterfällt. Und dann ist es Stefan Honig plötzlich selbst, der einem die Wirklichkeit um die Ohren haut: Von seinem Baumhaus fliegt eine summende Biene auf meinen Zungengrund, und während Honig meine Reaktion beobachtet, krabbelt die Biene meinen Rachen hinunter, begleitet von lieblichem Geflöte und schunkelndem Chor: „If you could hold your breath ‚till the swelling pass/ You could still be with us next morning“.

Und dann wieder benötige ich sie doch, die erhaben schreitende Welt aus Melancholie und Fernweh, die Herr Honig an der Gitarre zusammenspielt, während sein Kompagnon Jan Sedgwick Piano und Streicher und Beats addiert. Das fängt schon mit dem ersten Song, „In full make-up“, an: Aus der Ferne erklingt ein gutmütiges Summen, ein gemächliches Tempo setzt ein, ich fühle mich recht wohl, bis mich ein Trompetenmotiv plötzlich aus dem Trott holt und auf einen Thron hebt, als wäre ich plötzlich König. Irgendwie weiß man ab da schon, dass das was wird mit Honig. „Brand New Bike“, der nächste Song, ist ein Bastard aus Prefab Sprout und Sufjan Stevens, steht also auf jener Seite reflektierenden Pops, die aus ihrem privaten Umfeld und deren Übertragung auf das Weltengefüge ihre Inspiration holt. Ein sehr charmanter Chor lässt mich an „Illinois“ denken, ich lasse das als leicht zu lösenden Rätsel einfach mal so stehen.

Dann, mit „One“, kommt mir während eines Instrumentalparts plötzlich John Cale in den Sinn (obwohl der gar nicht auf Honigs Myspace-Site als Einfluss genannt wird – aber ist es nicht eher ein Merkmal von anregender Transzendenz, wenn man etwas heraushört, was gar nicht hineingelegt wurde?). Wie Cale auf „Mr. Wilson“ einem gewissen Beach Boy namens Brian seine Ehrerbietung macht, so bilde ich mir ein, „One“ wäre im Bezug dazu eine Hommage der Hommage der Hommage – und nun, wo meine Gedanken an John Cale entzündet sind, höre ich auch plötzlich eine unbestimmte Angst und eine Sehnsucht nach Verständnis, die sich hinter Stefan Honigs Gutmütigkeit verbergen könnte. „One“ ist sowieso sehr großartig, weil so üppig auf große Nummer gemacht und auch gebracht. Ein Strudel, der mich zum Ende hin vollständig in sich reinzieht, und wenn der Schluss dann viel zu schnell kommt, heißt es „festhalten“, sonst kreiselt man sich noch aus lauter Euphorie aus dem Baumhaus heraus.

Es sind auch traurige Songs dabei, die aber in der Traurigkeit nicht verharren, sondern sich durch einen upliftenden Refrain oder eine andere überzeugende Idee darüber hinwegheben, ohne die Traurigkeit damit zu verdrängen. Es ist nicht einfach, auf diesem Grad emotionaler Zustände zu wandern, ohne das eine mit dem anderen zu neutralisieren. Stefan Honig gelingt es aber. Und meist gelingt es mit den Werkzeugen, die auch Sufjan Stevens ein paar tausend Kilometer weiter westlich benutzt: Eine Werkbank aus Folk und Pop, darüber hängen einige holzige Resonanzkörper: Gitarre und Kontrabass, Vibraphon und Blockflöte, Perkussion und Streicher. Sie dürfen viel Schönes spielen, etwas, was ihnen von einem sehr talentierten Songschreiber eingeflößt wurde. Sie dürfen aber auch mal zupacken.

Stefan Honig singt mit einer vorsichtigen Stimme Verse, die eher undistanziert als persönliches Ich am Song teilhaben. An manchen Stellen habe ich den Eindruck, diese geringe Distanz lässt ihn seine Musik etwas zu süß auftragen, als würde er Angst haben, Lücken zu lassen, durch die man seine dünnwandige Behausung entdecken könnte, so wie auch ein Baumhaus im Herbst immer mehr Gefahr läuft, enttarnt zu werden, je mehr Blätter den Baum verlassen und den Blick schmerzlich freigeben auf etwas Wankendes und Schutzloses. In diesen Momenten denke ich kurz, er will zuviel, der Honig. Zuviel Beschützendes, zuviel Harmonie. Ich spüre aber bald: es liegt an mir, weil ich als alter Skeptiker soviel Gutes und Schönes gar nicht ertrage. In Wirklichkeit ist hier nämlich kein Ton zuviel, nur erwarte ich solch reichlich durchdachte Arrangements nicht unbedingt auf einer Indie-Platte aus Düsseldorf.

Mein liebster Song ist vielleicht „Paper Bag“, wo Honig das Tempo anzieht, Geigen exakte Kanten bilden, ich denke fast an Philly-Streicher. Es wäre doch gelacht, könnte man daraus nicht einen mitreißenden Disco-Track remixen! Musikalisch ist „Treehouse“ eine der ausformuliertesten und kurzweiligsten Platten, die mir im Bereich von ungrellen – und Gottseidank unschrammeligen – Popsong-Platten in letzter Zeit so untergekommen ist. Über den Songs wacht ein Mann mit wahrem Talent. Schau einfach nach oben, dann kannst du ihn um so deutlicher in seinem Baumhaus entdecken, je länger du dich an das Astgewirr gewöhnst. Irgendwann wird Stefan Honig herunterklettern und erwachsen sein.

VÖ: 31.10.2008 über Alison/ Babsies Diktatur/ Cargo CD, LP & Digital
www.honigsongs.de
www.alison-records.de
www.babsies-diktatur.de