2024-04-18

ISAAC HAYES: vom drama des loskommens

Isaac Hayes: Hot Buttered Soul (1969)

Eigentlich wollte ich hier eine längere Novelle über Isaac Hayes und „By The Time I Get To Phoenix“ verfassen, aber ich schaffe es einfach nicht, dieser Tragödie des normalen Lebens auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Und der einzige Grund, warum „Hot Buttered Soul“ nicht die vordersten Ränge meiner Lebensplatten bekleidet, ist alleine dem Umstand geschuldet, dass mich das darauf enthaltene Drama so dermaßen in sein Gravitationsfeld zieht, dass ich den Rest des Albums gar nicht mehr beurteilen kann.

Mit einem einzigen langen Keyboardton leitet Isaac Hayes „By The Time I Get To Phoenix“ (ursprünlich eine Countryballade von Jim Webb) ein. Und mit Einleitung meine ich einen andauernden Keyboard-Drone über achteinhalb Minuten! Er wird begleitet von zwei sich wiederholenden Basstönen und einem simplen Beat auf der Drumschelle. In diesen achteinhalb Minuten spricht Isaac Hayes ÜBER „By The Time I Get To Phoenix“. Er erklärt uns, was die Macht der Liebe mit einem anrichten kann. Er erzählt die Geschichte, die er hinter dem Song sieht, er schmückt sie mit Details aus, er macht den Hörer bereit für das Drama. Er betont, dass es eine Interpretation ist, er lädt uns ein, ihm dabei zu folgen: Ein junger Mann kommt nicht los von seiner Frau. Sie ist ein Arsch und betrügt ihn. Er erwischt sie mit jemand anderem, als er früher nach Hause kommt. Er kann’s nicht fassen, er versucht von ihr loszukommen, immer wieder, er kommt zurück, er versucht es, er kommt zurück. Er versucht, mit seinem alten Wagen weg zu fahren, und nach diversen Versuchen und Tränen schafft er es schliesslich raus aus seinem Viertel, raus und fort.

Der erste Teil ist unglaublich. Eine Keyboardtaste wird einfach gehalten. Achteinhalb Minuten. Er schafft es also, der junge Mann, hinauszufahren. Er will es aber gar nicht, er will bleiben, er WILL einfach bleiben, denn er liebt seine Frau. Er liebt seine Frau, aber es geht nicht, er muss weg, so schwer es ihm auch fällt. Und es fällt ihm mehr als nur verdammt nochmal schwer! But I have to leave you, Baby! Als der junge Mann es geschafft hat fortzukommen, bin auch ich geschafft. Geschafft, BEVOR DER EIGENTLICHE SONG ÜBERHAUPT BEGONNEN HAT!

Der junge Mann sitzt also im Auto, und die Worte, die ihm in den Sinn kommen, das sind die Verse, mit denen der eigentliche Song beginnt. Die Drums setzen ein, Hayes singt: „By the time I get to Phoenix, she’ll be rising/ She’ll find the note I left hangin’ on her door/ She’ll laugh when she reads the part that says I’m leavin’/ ‘Cause I’ve left that girl so many times before“. Mit dem Wechsel des Keyboard-Tons nach achteinhalb Minuten steigt das Wasser hoch. Mit den Streichern kommen die Tränen. Und noch ist nicht mal die Hälfte des Tracks um! Hayes windet sich mit dem Protagonisten, fühlt und denkt und analysiert seinen Schmerz. Oft werden kleine Indie-Songlein als „groß“ bezeichnet. Ich behaupte, wer durch die vollen 19 Minuten „By The Time I Get To Phoenix“ gegangen ist, der vergibt Attribute wie „groß“ nur noch sehr vorsichtig auf andere Musik.

Ich kapiere die letzten zehn Minuten gar nicht mehr richtig, obwohl ich alles höre – den genauen Beat, die scharfen Bläsereinschübe, die Drums, die Orgel, das Klavier, die nie verkleisternden Streicher, die Dynamiken, die Stelle kurz vor dem Ende, wenn sich alles noch einmal beruhigt und der Song auszulaufen scheint, so als würde er sich langsam aus dem weiteren Leben des jungen Mannes verabschieden, um dann doch noch einmal näher zu kommen, so wie sich auch schmerzhafte Erinnerungen dem Bewusstsein immer wieder nähern.

OK, es reicht. Ich sage nur noch dies: „By The Time I Get To Phoenix“ in der Interpretation von Isaac Hayes ist der zweitbeste Song aller Zeiten. Der beste ist schon anderweitig vergeben (eine Single-B-Seite, tja). Und das Plattencover von „Hot Buttered Soul“ ist ein wahrhaft visionäres und wunderschönes HipHop-Plattencover. 1969. Zehn Jahre vor HipHop.

Man sollte den Plattentitel übrigens so lesen, wie er auf dem Cover angeordnet ist. Als eine Folge einzelner Eigenschaften. Also nicht ‚Hot Buttered Soul’, sondern

Hot
Buttered
Soul

Isaac Hayes starb am 10.8.2008 in seinem Haus in Memphis. Er wurde tot neben einem Fitness-Laufband gefunden. Hayes wurde 65 Jahre alt.

3 Gedanken zu “ISAAC HAYES: vom drama des loskommens

  1. ein sehr schöner text. ich werde mir schnellstmöglich »hot buttered soul« buttern oder brennen lassen, wurde mir doch das album schon seit so langer zeit empfohlen.

    den besten song aller zeiten verrätst du demnächst bitte aber auch noch… (oder hast du schon? wo…?)

    R.I.P. Isaac!

  2. den besten song verrate ich dir sicher auch noch mal bzw. habe ich bestimmt schon im ein oder anderen forum unseres vetrauens gemacht.

    ach was solls? es ist "I Am The Walrus", goo goo g'joob, nun ist es raus.

    Hot Buttered Soul gefällt dir bestimmt, mein Drama-affiner Freund!

  3. die beatles?! wie wertkonservativ… 😉 whatever happened to »beautiful child«?

    ich schreibe hier dann sicher noch mehr rein sobald ich heiß gebuttert wurde.

    dramatische grüße!

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