Wahrscheinlich hat jeder, der sich für Musik und das Drumherum (man nennt es auch Popkultur) interessiert, eine geheime Schatulle in seinem Bewusstsein, in der er/sie ein paar besondere Fotos aufbewahrt, die eine Zeit, eine Stimmung, einen Stil oder eine Haltung so eindrücklich konservieren/überhöhen/verstärken, dass sie unweigerlich begeistern und berühren (im Englischen wird dafür das bessere Wort „touching“ benutzt). Fotos, die man immer wieder anschaut, weil sich in ihnen ein Aspekt der Popkultur unbegreiflich verdichtet. Man versucht, in die Details der Fotoaufnahmen möglichst tief einzutauchen, um ihr Geheimnis zu ergründen. Immer wieder, und doch gelingt es nie, es wirklich zu ergründen, was ja auch das Wesen ihrer Faszination ausmacht.
Für mich ist es Jackie Mittoo 1968 am Airport Jamaica, kurz bevor sein Flug nach Kanada geht. Nur fünf Fotos sind es, die ich von diesem kurzen und wichtigen Augenblick im Leben Mittoos kenne (er zieht nach Toronto). Zwei davon sind auf „The Keyboard King At Studio One“ enthalten, drei auf „Tribute to Jackie Mittoo“. Jackie Mittoo wartet mit Freunden auf dem Areal des Airports auf den Abflug. Das Hab und Gut ist eingecheckt, die vier sind in lockerer Stimmung, sie machen Fotos von Jackie am Flughafenzaun vor dem Rollfeld, im Hintergrund steht die Maschine nach Toronto im gleissenden Sonnenlicht. Jackie Mittoo trägt einen superfeinen Anzug in anthrazit, die umgeschlagenen Hemdärmel ragen aus den Jackettärmeln heraus, vergoldete Manschetten mit farbigen Emplem schliessen sie um die Handgelenke. In einer Hand hält Mittoo eine Zigaratte. Der dünne Seidenschlips passt perfekt zum Anzug. Auf einem Foto macht Mittoo mit Armen und Oberkörper eine schwingende Bewegung. Mittoo sieht fantastisch aus. Cool und groß, elegant und unbegreiflich. Es berührt mich jedesmal, wenn ich mir diese Fotos am Flughafen Jamaica anschaue. Warum das so ist? Ich arbeite dran.
Coxsone Dodds Arbeitsvereinbarung mit Jackie Mittoo als musikalischem Leiter der Studio One Mannschaft basierte auf der Bezahlung für fünf neue Rhythmen pro Woche. Da kamen in über fünf Jahren natürlich einige hundert Grooves zusammen. Ich sag mal, wer je auch nur zaghaft in Ska/Rocksteady/Early Reggae und deren vielfache Verwertungen durch Toaster/DJs und Dance Hall reingehorcht hat, wird ziemlich sicher sehr schnell auch einen Riddim und einen Orgelton von Mittoo erwischt haben. Sei es in alten Funk-, Soul- und Beat-Party-Stompern der 60er Jahre als auch in eleganten Reggae-Riddims der 70er. Diese Zusammenstellung vereint großartige Songs aus allen Phasen dieses enorm produktiven Reggae-Generators. Darunter auch das unglaublich gute „Totally Together“, dessen federnder Unterbau, die so leicht und gleichzeitig kompakt wirkende Basslinie, die sich wundervoll an entscheidenden Stellen zurücknehmende Orgel, die ganz dezent funkende Gitarre von Ernest Ranglin sich zum elegantest treibenden Reggae-Sommergroove zusammenfindet, den zu hören ich je die Ehre hatte. Darüber singt Jackie Mittoo einfach nur ein paar Worte, universell verständlich, cool und gefühlvoll: „I’m totally (Kunstpause) together … Right On … Di Reggae … usw.“. Man muss es hören, um mein Gestammel zu verstehen.