note: ich habe heute den text ein wenig bearbeitet und stelle ihn daher als „revisited version“ nochmal rein. darf ich doch, oder? internet antwortet: ja, darfst du! dankeschön, dann mache ich das auch.
PERE UBU
The Modern Dance
1978
Ich sah Pere Ubu aus Cleveland, USA, 1980 bei einem Auftritt in der Bremer Uni-Mensa. Ich war 16 Jahre alt. David Thomas, damals noch Zeuge Jehovas, hatte gerade sein Pseudonym „Crocus Behemoth“ abgelegt. Der Texaner Mayo Thompson – Marxist und in den 1960er Jahren Gründer des Avant-Rock-Projekts Red Crayola – war schon dabei. Gerade erst war „The Art Of Walking“ erschienen, das vierte Album von Pere Ubu (oder sein Erscheinen stand kurz bevor; ich weiß es nicht mehr). Der Sound, der von den Nacktbetonwänden der Uni-Mensa abgestrahlt wurde, war schlecht. Allen Ravenstine kämpfte das ganze Konzert damit, dem Kreischen, das er seinem Arbeitsplatz – einem alten Analog-Synthesizer mit Kabelsteckern – entlockte, mehr Gehör zu verschaffen. Es gelang ihm nur ab und an, die indifferente Soundwand zu durchbrechen, durchkratzen, durchpluckern, durchschaben. Sänger David Thomas hielt ein kleines Schrottteil in der Hand, auf das er ein paarmal mit einem Silberhammer einschlug. Unzufrieden mit dem Ergebnis, schmiss er es genervt nach hinten auf den Boden. Thomas trug einen dunklen Anzug, dazu ein weißes Hemd (das von den raumgreifenden Bewegungen seines mächtigen Körpers halb aus der Anzughose gezogen wurde) und eine dünne, schwarze Krawatte, die den Umfang seines Leibes grotesk zu verstärken schien. Die Band selbst hatte einfach Jeans an, Freizeithemden, in den Hosenbund gestopft. Sweat-Shirts, aus denen Hemdkragen ordentlich herausschauten. Darüber vielleicht ein Jacket. (Ich, 2008 aus dem Off: Willkommen zur größten All-American-Avantgarde-Pop-Band der letzen drei Jahrzehnte!).
„Die Leute sind sehr diszipliniert, weil Pere Ubu auf der Bühne sehr diszipliniert ist! Das Spektrum unserer Fans ist sehr groß, es ist schwer zu sagen, da es für die Band keine Regeln und Grenzen gibt – und somit auch für’s Publikum nicht. Zu jedem Konzert (im Dome, Media-Center in Cleveland) kommt eine total verkrüppelte Frau, ohne Arme, im Rollstuhl… Ingenieurstudenten, die Krawatten tragen und Nägel in ihren Taschen haben; Bauarbeiter – einer unserer größten Fans ist der Vorarbeiter eines Bautrupps, der Frau und Kind hat. Viele bringen ihre Kinder mit, die stehen auf unserem Rhythmus! Da gibt es ein Kind namens Keith, das mit unserem Album ins Bett geht und all die Texte kennt. Im allgemeinen sind es praktisch veranlagte Menschen, nicht so sehr diese Leute vom College“
Crocus Behemoth a.k.a. David Thomas (aus „Der Sound aus dem Stahlwerk“, von Harald Inhülsen, Musik Express, 1978)
Das Album, mit dem Keith ins Bett geht und dessen Texte er alle kennt, heißt „The Modern Dance“. Es ist das erste Full-Length-Album der größten All-American-Avantgarde-Pop-Band der letzten drei Jahrzehnte (in der Folge als Pere Ubu abgekürzt). Ich weiß nicht, was sich Keith unter seiner Bettdecke vorstellt, wenn ihm die Verse von „Heaven“ in den Sinn kommen, aber mich haben sie immer ungemein beflügelt: „I could swear the cities like a magic beach/ cause against the curb I could hear those street waves beat“. So beflügelt wie den Arbeiter in Ballettschuhen, der auf dem Cover über die rußbeschmutzte Skyline der Industriezone Cleveland tanzt. Und auch wenn „Heaven“ gar nicht auf „Modern Dance“ enthalten ist (dafür aber ein treibender, von kalten Windböen aus Allan Ravenstines Synthesizer durchzogener Rocker namens „Street Waves“), so steht diese LP doch unwiderruflich für meine damalige Vorstellung: Ich surfe auf der Welle des Straßenbetons zum Straßenwellenbeat! Meine gesamte, zeitweise sehr romantische Beziehung (New Wave! Anti-Hippie! Zurück zum Beton! Caligaris Mirror!) zur Ästhetik von Industrieanlagen des metallverarbeitenden Gewerbes, Förderrohr-Labyrinthen, Zuliefererstraßen, Fertigungshallen, Stahlbrückenkonstruktionen und Industrieschrottverwertungen entstand damals unter dem Eindruck dieses Covers und der Musik, die das hyperreale Leben umschloss wie eine rostige Auspufftrommel. Real World! Sich an der Wirklichkeit berauschen. Das waren Dinge, mit denen sich abgegrenzt wurde. Wer benötigte denn da noch Drogen?
Später wurde natürlich auch dieser Industrieschick als Romantizismus enttarnt, aber Pere Ubu schienen das von Anfang an erkannt zu haben, denn sie nannten denjenigen Track „Sentimental Journey“, der akustisch am konkretesten mit den realen Insignien industrieller Verwertung und Entwertung spielt, der klingt wie eine Field-Recording-Aufnahme in einer stillgelegten Produktionshalle aus der verarbeitenden Industrie. Es klirren Glasscherben, Metallenes wird schroff an Metallenes gerieben. Es gibt keine Produktion mehr, es gibt keinen Rock’n Roll mehr. Ein Saxophon spielt Ornette-Coleman-artig, ein unregelmäßiger Bass und eine zufällige Gitarre treffen sich nicht, ein sirrender Synthesizer klingt wie die Langwellenfrequenz eines schlecht justierten Radiosenders, dem sowieso keiner mehr zuhört. Chaos verdichtet und entzerrt sich wieder, dazwischen stößt David Thomas Worte und Laute aus („Window“, „House“, „Hm“, „Tzz“), beiläufig und unzusammenhängend. Dem Ort, dem die sentimentale Reise des Tracks gilt, ist keine Regelmäßigkeit, kein Rhythmus mehr eigen. Die Töne ergeben keinen Zusammenhang mehr. Ein windiger, verlassener, ehemaliger Produktionsstandort. 30 Jahre nach „Sentimental Journey“ ist ganz Cleveland so ein Areal zerbrochener Fensterscheiben geworden, entvölkert und ohne Arbeit.
Pere Ubu gingen schon vorher weg. Im Fluchtgepäck hatten sie die amerikanische Idee der prägenden Landschaften: Raus aus Cleveland, und hinein in andere Bundesstaaten. Albumtitel bildeten Standorte ab („Pennsylvania“, „Arkansas“). Der Blick auf den Eriesee wurde zurückgeworfen mit scharfkantigen Spiegelscherben, die einen in kalten Winterfarben getauchten Horizont spiegelten („Song Of The Bailing Man“). Irgendwann waren die Grenzen der Landschaften nicht mehr klar, auch nicht mehr zu den halb-fantasierten (höre das geisterhafte „Erewhon“ von David Thomas). Kein Wunder, dass Greil Marcus, Obermystiker unter den amerikanischen Musikjourmalisten, ihr großer Fan ist.
„The Modern Dance“ ist eigentlich gar keine schwere Kost (von „Sentimental Journey“ einmal abgesehen). Es enthält unter dem Asphalt mitreissende Songs, die Punk überspringen und dessen Energie behalten: David Thomas brabbelt diszipliniert, während Allen Ravenstines Synthesizer zerrt und reißt und immer wieder versucht, den schweren Rock’n Roll-Verbund der Band zu trennen statt zu verbinden – in dieser Trennarbeit liegt denn auch Ravenstines herausragende künstlerische Leistung! Und das irritierend romantische „Chinese Radiation“ berührt mich immer noch genauso wie es mich ängstigt: „He’ll be the Red Guard/ She’ll be the New World/ He’ll wear his grey cap/ And she’ll wave her red book/ He’ll tell her, ‚One Way?’/ And then they’ll sing…“. Dieser “eine Weg“ ohne Rückfahrkarte ist dann doch ein paar Jahrzehnte später etwas weniger romantisch beschritten worden: Statt des roten Buchs nahm das Girl einfach die ganze zerstörerische Wucht des freien Marktes mit über die Grenze.
Hallo!Schön mal auf deutsch über diese irre Band zu lesen ,die ich leider nur einmal live gesehen habe ,dafür aber auch Rockt from The Tombs Reunion in Kassel.Weiter so ,interessantes Posting…