2024-10-15

PJ HARVEY erste stunde: kriegsgeschichte

schüttel dein land

Nach dem Blick nach innen mit „White Chalk“ (2007) nun der Blick nach draußen: „Let England Shake“, P.J. Harveys mit Weltkrieg-1-Metapher-Lyrik getränktes musikalisches Angebot im letzten Jahr rauf und runter zu hören, scheiterte einzig und allein daran, dass mir selten der Sinn nach Weltkrieg-1-Metapher-Lyrik steht. Die halbes dutzend Male, die ich „Let England Shake“ hörte, haben mich dann allerdings wieder ziemlich überzeugt. Ein Jahr lang hat sich Polly Jean Harvey mit den Lyriks beschäftigt. Hat Geschichtsbücher gewälzt, Verse umgeschmissen, Formulierungen gesucht, gefunden und verworfen. Am Ende blieb die Hälfte übrig. Die Texte sind Anklagen an ihr Heimatland, das nach wie vor – und damit steht England weiß Gott nicht alleine – auf Imperialismus und rücksichtslosen globalen Durchsetzungswillen setzt. Die Musik eine mir unerklärliche Mischung aus Folk, Marschmusik und altem Rock’n’Roll und Rock-A-Billy. Eine Mischung, die ich so in der Summe noch nie gehört habe. In dieser Hinsicht ist sich PJ Harvey wieder mal darin selbst treu geblieben, dass jedes ihrer Alben komplett anders und doch wieder total nach PJ Harvey klingt. Patti Smith sagte mal letztens irgendwo, so ein Song wie „ The Words That Maketh Murder“ wäre ihr auch gerne eingefallen. Ich sage, drei Viertel der Weltbevölkerung wäre er gerne eingefallen, ein Viertel würde ihn vielleicht gerne verbieten. Aber er fällt eben doch nur PJ Harvey ein. Manchmal grollen sie von Ferne heran, die Töne. Und wenn sie näher kommen, wartet überraschend eine Zither auf sie. Mit dem Einsatz dieses eher im häuslichen Kontext der Familienmusik verhafteten Instruments lässt PJ Harvey eine wunde Besorgnis mitklingen, die die „große“ Politik wieder auf die Lebensgegebenheiten derjenigen zurückbricht, die die Staatsinteressen und deren Durchsetzung mit mitunter kriegerischen Mitteln immer mit voller Wucht zu spüren bekommen. Aus einem dichten, aber irgendwie auch zarten Sound formen sich PJ Harveys Worte heraus, als würden sie aus der Musik direkt entstehen. Ich habe dieses Jahr keine Platte erlebt, wo Musik und Text so stark miteinander in Verbindung stehen, wie auf „Let England Shake“. Nicht dass sich beide Elemente schnöde ineinander verschränken würden. Das eine wirft aber Schatten und Licht auf das andere zurück. Musik und Text stehen jeweils auch ganz unabhängig da, als würden sie durch das andere Element ihrer selbst nur noch bewusster werden. Die holprig eingebundenen Samples und offensichtlichen Zitate verstärken den Drift zur Reflektion noch: Sie verkannten frühe Zeugnisse des Aufbegehrens (1970er Reggae mit Niney The Observers „Blood & Fire“), der Sehnsucht (das in den 1920er Jahren entstandene „Kassem Miro“ von Said El Kurdi, wiederveröffentlicht auf “Give Me Love – Songs Of The Brokenhearted”) und des Forderns nach Gerechtigkeit (1959er Rock’n’Roll mit Eddie Cochrans “Summertime Blues”) in die Songs wie eingeschlagene, den reibungslosen Ablauf störende Klötze. Und so packt PJ Harvey mit „Let England Shake“ England bei den Eiern, so wie sie als Kind von ihrem Vater das Abklemmen von Schafsbockhoden gelernt hat (ihr Vater selbst war dazu zu zart besaitet): Mit fachkundigem, gleichzeitig energischem und sensiblem Griff. Ob England laut aufschreit, bevor die Eier mangels Nachschub absterben? Als Soundtrack für durchfrorene Nächte im Occupy-Camp taugt „Let England Shake“ jedenfalls allemal. Nur leider habe ich aus keinem Zelt bisher derlei schallen gehört. Vielleicht muss ich aber auch einfach noch näher ran gehen.

PJ HARVEY let england shake 2011