The Scottish Play: 2004 by Wire
Mit „Chairs Missing“ ist Punk schon 1978 erwachsen geworden. Das hat Wire damals manch einer übel genommen und sie als Künstlertypen beschimpft, die das Medium Rock mit mittelmäßiger Experimentalmusik überstrapazieren würden (warum auch immer Leute meinen, Künstlertypen per se beschimpfen zu müssen, während saufende Fußballprolls wie Paul Gascoigne oder Wayne Rooney verehrt werden). Aber eigentlich treten Wire schon 1977 mit „Pink Flag“, der erste LP, aus dem Schatten gängiger Pogo- und Rotzrhetorik heraus, mit der sich viele Punks ihren Spaß am Komasaufen als irgendwie bedeutungsvolles Anderssein schön rempeln. Bei Wire ist von Anfang an keine unkontrollierte adoleszente Energie am Wirken – obwohl „Pink Flag“ viele klassische Punk-Idiome in sich trägt: kurze Songs, keine Soli, Gitarre-Bass-Schlagzeug-Nichtgesang. Stattdessen gibt es Kontrolle, harte Schnitte, dead stops, Schreie und gleichzeitig abrupte Distanzierungen von ihnen – ein Ausbremsen von Elan und Sich-gehen-lassen. Der Vorwurf an Wire, sie wären eine Intellektuellenband, liegt darin begründet, dass sich diese Band immer schon weigerte, Spaß zu haben. Noch nicht mal am Lärm oder an der Zerstörung. Heute gelten ihre ersten drei Platten, die sie in den Jahren 1977-79 aufnehmen, zu recht als Klassiker. 1980 trennt sich die Band. Die Mitglieder (enge Freunde waren sie sowieso nie) widmen sich danach Solo-Projekten, die zum Teil das Wire-Erbe durchaus beeindruckend fortführen (Colin Newman) oder sich in mehr oder weniger interessanten Ambient-Projekten verlieren (Bruce Gilbert). Zwischen 1986 und 1991 gibt es halbherzige Reunions, danach ist das Kapitel Wire endgültig abgeschlossen. Umso größer die Überraschung, als 2002 in rascher Folge zwei Eps mit neuen Tracks erscheinen („Read + Burn“ 1+2, später leicht abgewandelt als „Send“ in Albumlänge veröffentlicht), auf denen Wire wieder Bezug nehmen auf ihre schneidenden und intelligenten Punk-Songs der „Pink Flag“-Phase. Eine überwältigend energetische Rückbesinnung auf ihre damals entwickelten Techniken aus Präzision, Schnelligkeit und Ausbremsung. Wire sind jedoch nicht ihr eigenes Revival, sie sind mehr Gegenwart als alle anderen Zeiten. Das waren sie in früheren Gegenwarten auch schon, als sie mit „Pink Flag“ über „Chairs Missing“ bis zu „154“ innerhalb von drei Jahren einer der zwingendsten geraden Wege aus Punk zu New Wave beschrieben (heute aus der historischen Perspektive würde man New Wave durch Post-Punk ersetzen). Die DVD/CD „The Scottish Play: 2004“ zeigt nun mittels eines Auftritts in Glasgow im April 2004 (der auch auf der CD enthalten ist) und einer in Auszügen dokumentierten Londoner Performance („Flag: Burning“), wie Wire eben jenes aktuelle Material von “Send” auch live umgesetzt haben. Während des „Flag:Burning“-Auftritts agiert die Band hinter vier quadratischen Glacéleinwänden, auf die verschiedene Film- und Fotosequenzen projiziert werden. Auf einer davon ist Colin Newmans Mund zu sehen, dieses Körperorgan, aus dem die meisten Wire-Zeilen kommen. Die Lippenbewegungen verlaufen mehr oder weniger synchron zu den Lyrics des gerade gespielten Songs. Aber natürlich ergeben sich Verschiebungen und Asychronizitäten. Sie verdeutlichen, dass es Wire nicht um eine exakte Reproduktion des Songmaterials geht, sondern darum, dass jede Äußerung, jede Aufzeichnung ein Unikat ist, egal wie strukturiert die Musik auch sein mag. Der Reiz dieser DVD/CD liegt darin, zu verfolgen in welchem Maße Wire die Genauigkeiten gerade nicht gelingen. Es ist spannend und schön anzusehen, wie das präzise Gefüge der Songs von „Send“ in der Performance nicht nur Ungenauigkeiten und Risse zulässt, sondern wie Wire für den nicht mehr unter Kontrolle zu bekommenen Randbereich, der bestimmt wird durch die ungewisse Gegenwart der Aufführung, dann auch wieder genau den Rahmen definieren, in denen diese Ungenauigkeiten kommuniziert werden. Letztlich geht es Wire darum, Kommunikation zwischen den Individuen herzustellen oder zumindest die Schwierigkeiten aufzuzeigen, überhaupt Kommunikation zustande kommen zu lassen. Die vier käfigartigen Planquadrate, in denen sich die vier Wire-Einheiten Gotobed/ Newman/ Gilbert/ Lewis befinden und von denen aus sie Kontakt zueinander suchen, ziehen sich daher sowohl durch die Performance als auch durch das Design von Album-Package und DVD-Inhaltsangabe. Wer allerdings Bonusmaterial erwartet, in denen der Blick hinter die Kulissen der Kulissen der Geschichte der Band erlaubt wird, der wird enttäuscht werden. Weder ein Zurück noch ein Nach-Vorne wird geboten. Dafür ein entschiedenes Hier. Wie weit Wire in der Gegenwart sind, erkennt man auch daran, dass die einzigen alten Songs, die sie spielen (drei von „Pink Flag“ als Zugabe) an Überzeugung und Gedonner gegenüber den neuen Tracks von „Send“ abfallen. Kaum zu glauben: Mit dem Material von „Send“ sind Wire in punkto präzisem Punk-Primitivismus besser als sie es mit ihrem eigenen Prototypen „Pink Flag“ je waren (ihre übrigen Großtaten „Chairs Missing“ und „154“ spielen in diesem Kontext hier keine Rolle). Und an den Bildern dieser alten Herren auf „The Scottish Play: 2004“ wird noch einmal deutlich, was ihre Musik noch nie war: jugendlich. Wire haben stattdessen schon immer jegliche mit Jugend in Verbindung gebrachte Spontaneität und Aggression durch Genauigkeit, Überlegung und Künstlichkeit ersetzt. Nun hat die Band im mittleren Alter zwischen 45 und 50 Lebensjahren auch endlich den adäquaten Körper zu ihrer Kunst bekommen: Colin Newman etwa, wie er zu Beginn des Auftritts die skelettierten Lyrics mit Lehrerbrille und hohem Haaransatz vom Blatt absingt, während der überlaute Sound des Wire’schen Punkdesigns (dessen Lautstärke sowohl auf der DVD als auch auf der CD gut zu erahnen ist) jede Häme darüber verbietet; oder wenn die Kamera das Profil von Drummer Robert Gotobed einfängt und man kaum glauben mag, dass dieser alte, kahle, kantige und bewegungslose Schädel gerade den Hochgeschwindigkeitsrhythmus denkt und sein Körper ihn mit dünnen, muskellosen Armen umsetzt – wie diese Bilder Punk vorspielen und gleichzeitig dessen Verneinung sind, ist große Verdichtungskunst. Wire sind erwachsene Poeten, mit all dem Salz, das dieses Wort im Kontext von Punk inne hat, um die Wunden derjenigen damit einzureiben, die damals so blöde waren, sich tatsächlich ihre Sicherheitsnadeln durch die Wange zu ziehen, anstatt es nur so aussehen zu lassen. Statt „für immer Punk“ sind Wire „für immer erwachsen“. Schon immer gewesen. Eine Provokation sind sie damit geblieben.