„Was‘n das für prätentiöse Scheiße?“, entfuhr es mir, als ich „Bon Iver, Bon Iver“ das erste Mal hörte. So sämig schien mir die Musik verrührt, selten unterbrochen von einleuchtenden Ideen. Grünlich vermoost und verfarnt, angegriffen von Jahreszeiten, eingerissen und aufgerollt wie übereinander geklebte, alte Tapeten in schimmligen, längst sich selbst überlassenen Räumen – hatte mir bei diesen Assoziationen nicht schon das PlattencoverGEMÄLDE einen Streich gespielt? Und klingt Bon Ivers Stimme nicht auch so, als hätte sich der Schimmelpilz bereits auf die oberen Bronchialäste gelegt, sodass die Ausatemluft nur noch ein hohes, eunuchiges Wimmern zulässt? Ja, so klingt es, und was soll ich sagen, Mit-Platte des Jahres.
Bon Iver hat sich Zeit genommen für sein zweites „richtiges“ Album. Irritiert und abgelenkt vom Erfolg von „For Emma, Forever Ago“ ein paar Jahre zuvor musste er erst wieder lernen, fernab permanent entgegengebrachter Bewunderung, seinen eigenen Einschätzungen zu vertrauen. Runter auf Null. Was liegt da näher, als sich nach Neu-Promi-Zusammenarbeit mit Kanye West und anderen Seitenprojekten mal wieder voll in die Isolation zu begeben, mit Bruderherz Nate am Arsch der Welt am Aufbau des April Base Studios zu werkeln und ein paar Mitstreiter um sich zu scharen?
Von einer richtigen Band las ich viel, wenn es letztes Jahr um „Bon Iver“ ging. Die reichere Instrumentierung verbrummt Gitarren, Banjos, Trompeten, Beckentrommeln, Fahrradklingeln und Billigsynthesizer zu einem pelzigen, feuchten, nährstofffressenden Sound. Willst ne Hookline? Kannste warten! „Bon Iver, Bon Iver“ ist ein rätselhafter, klebriger Klumpen Privatlebens. Zehn Songs, nach zehn Orten benannt. Unüberhörbar amerikanischen Orten. Und so wie einige dieser Orte vielleicht gar nicht existieren, so sinkt auch die Stimmung auf „Bon Iver“ immer wieder ins Nebulöse ab, wo sich halb geschlossene Lider und halb geschlossene Augen gute Nacht sagen. Ein Sound, der es schwer macht zu sagen, was man wirklich hört und was man hinzufantasiert. Es sind nicht die schlechtesten Momente, denn selbst in erfundenen Erinnerungen steckt immer derjenige drin, der sie erfindet. Vielleicht sogar mehr als in Erinnerungen, die versuchen, ein wirklich geschehenes Ereignis bloß zu rekapitulieren.
Und so folgt das beigefügte Textblatt gerade mit seiner krickelnden Schreibschrift am Rande der Unlesbarkeit der Tradition einer bestimmten Sorte von Songwritern wie Neil Young oder Jason Molina, die in langen Bögen immer wieder das Unlösbare versuchen und mal traurig, mal wütend, mal unsicher ihr Scheitern daran zelebrieren – Amerika zu erfassen: „Lies nicht den Songtext mit, versuche höchstens vage hinter sein Geheimnis zu kommen“. Den Rest dichte einfach selber dazu. Wie auch die Melodien, großen Bögen und kleinen Wendungen. Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, was nur da ist und was mich zwingt, es zu addieren. Was ich nicht addiert habe, ist ganz bestimmt der schreckliche Synthesizer-Sound auf dem letzten Stück, den ich mir aber mittlerweile altersmilde schönargumentiert habe. Er hat nämlich eine nützliche Funktion: Er sagt mir, dass ich gar nichts dafür kann. Es ist „Bon Iver, Bon Iver“, das den ganzen Sermon heraufbeschwört, den ich hier gerade jetzt in diesem Moment abgelassen habe. Ehre wem Ehre gebührt.
BON IVER bon iver, bon iver
2011