2024-12-04

SUMME DER TEILE: im selbstversuch

Summenspiele fertiger und unfertiger Kulturproduktionen.

Diesmal ein paar Überlegungen zu allerlei Kulturprodukten und zu anderen Dingen, die mir auffielen. Entzündet an einer eher unschuldigen, recht geläufigen Bemerkung, die Arno Frank im November 2009 in der ZEIT loslies, und am Lodern gehalten durch eine nicht besonders aufregende Langspielplatte eines experimentellen Improviationstrios aus Minneapolis.
Neulich las ich also in der ZEIT einen Text von Arno Frank, der das erste Album von Them Crooked Vultures (einem Supergruppen-Projekt der Emo-Veteranen Dave Grohl, Josh Homme und John Paul Jones) besprach. Arno Frank gefiel die Platte nicht besonders, und dieses Missfallen kumulierte in der Zusammenfassung, dass ein Trio zu hören sei, „das leider nur exakt der Summe seiner Teile entspricht, und das ist am Ende zu wenig – auch wenn es sehr große Teile sind“.
Die Summe seiner Teile? Teile seiner Summen? Ein Summenspiel! Das interessierte mich plötzlich.
Was ist in der Musik eigentlich die Summe der Teile? Wo ist der Punkt, an dem sie weniger oder mehr ist? Wo ist überhaupt der Punkt, an dem die Summe der Musik exakt ihrer Teile entspricht?
Ich versuchte, das Summenspiel auf ein praktisches Beispiel zu übertragen. Dazu wählte ich Musik, die zum Einen ein weites Spektrum an Zuständen abdeckt (laut/leise, sparsam/ausufernd, Stille/Einsturzgefahr, stukturreich/strukturlos), zum Anderen aber transparent genug ist, um nicht zu unübersichtlich zu sein.
Ich entschied mich für das Album eines Trios, so wie ja auch Them Crooked Vultures ein Trio sind. Es ist ebenfalls das erste Album der Gruppe, und es ist ebenfalls aktuell erschienen: „Medusa’s Lair“ von Milo Fine, Paul Metzger und Davu Seru. Ein einziges, frei improvisiertes, nicht mehr nachbearbeitetes Stück Musik auf zwei LP-Seiten. Modifizierte Gitarre, Perkussion, Klarinette, Klavier, präpariertes Klavier, Schlagzeug, Stimmen.
Wie weit kommt man bei solchen Platten mit dem Summenspiel?
„Medusa’s Lair“ sperrt sich an vielen Stellen, überhaupt als eine Summe von Musik wahrgenommen zu werden. Das ist vielleicht auch das Wesen von Improvisation. Es sind Einzelaktionen, die sich finden oder auch nicht, die sich vielleicht sogar phasenweise gar nicht finden wollen. Während des Hörens von „Medusa’s Lair“ denke (und notiere) ich:
Die spannendsten Stellen sind diejenigen, wo sich wenige Töne finden. Sie werden zu Rinnsälen, hören fast ganz auf zu tönen, aber man weiß, es wird so nicht weiter gehen. Jeden Moment können sich plötzliche Töne bedrohlich vor mir aufbauen und über mich herfallen. Ist dieser Punkt der Stille derjenige, der exakt der Summe der Teile entspricht? Und was kommt dann? Wird dieser „exakte Summenpunkt“ verlassen, wenn sich plötzlich ein Motiv findet?
Schreibe ich, bis mich Minuten später eine Akkumulation der Töne vom Gegenteil überzeugt:
Die spannendsten Stellen sind diejenigen, wo sich viele Töne finden. Sie werden zu Sturzbächen, reißen einander mit, sind ganz im Tönen, aber man weiß, es wird so nicht weiter gehen. Jeden Moment können sich plötzlich Töne vollends von mir zurückziehen und mich alleine lassen. Ist dieser Punkt des Lärms derjenige, der exakt der Summe der Teile entspricht? Und was kommt dann? Wird dieser „exakte Summenpunkt“ verlassen, wenn sich ein Motiv aufzulösen beginnt?

Und wenn sich überhaupt gar kein Motiv findet, in das die Töne einfallen? Bilden Töne dann überhaupt noch Summen? Existieren sie dann nicht vielmehr nebeneinander her? Und ist das ein Weniger an Summe?
Mich fasziniert das irgendwie gerade. Ich glaube zu gleichen Teilen an das Summenspiel, wie ich auch nicht daran glaube. Es ist wie die Suche nach Perfektion in der Musik, nach einem ganz und gar fertigen, perfekten Zustand, der mich aber dann wieder in seiner Perfektion abstößt und zum Gegenteil überlaufen lässt, zum Unfertigen, Unperfekten. Und irgendwie scheint sich die ein oder andere Kulturproduktion der letzten Jahre ebenfalls ein bisschen in den Summenspielen und in dem Verhältnis fertig zu unfertig zu spiegeln.
Erst einmal richte ich den Spiegel auf das Verhältnis von komponierter Musik (da komme ich als Konsument her) zu improvisierter Musik (da gehe ich manchmal als ziemlich ahnungsloser Konsument hin):
Das Bestreben kompositorischer Musik (ich nenne es im Folgenden manchmal sehr windschief „Popmusik)“ ist es, die Musik so zu bearbeiten und zu verdichten, bis sie als Endergebnis ein Mehr an Summe erreicht. Dieses Endergebnis wird dann veröffentlicht.
Frei improvisierte Musik dagegen lässt daran teilhaben, wie (und ob) die Summe der Teile sich mühsam findet und wie leicht sie sich wieder verliert. Man bekommt in der Improvisation sozusagen den Prozess mitgeliefert. In der Popmusik nur das Endergebnis: Die Endsumme, wenn man so will.
In der Popmusik werden diese Endsummen interessanterweise seit einigen Jahren wieder vermehrt auseinandergerissen und neben das Endergebnis (nämlich das fertige Werk) gestellt, wenn Album-Editionen um Demos und Sessionaufnahmen angereichert werden.
Das sind übrigens Zeichen einer Entwicklung, die sich seit vielleicht anderthalb Dekaden in der Musik (und in Kunst und Kultur insgesamt) verstärkt andeutet, sofern ich mich nicht täusche:
Das unfertige begleitet das fertige Kulturprodukt.
Beispiele: Der amerikanische Songwriter Sufjan Stevens bietet zum fertigen Album „Illinois“ parallel eine CD mit nicht minder interessanten Musikskizzen und Alternativversionen an („The Avalanche“); die Einstürzenden Neubauten lassen sich im Internet live bei ihrer Musikfindung zuschauen; unfertige Sessionaufnahmen zu „Pet Sounds“ von den Beach Boys werden 1997 zusammen mit dem fertigen Original auf einer 4-CD-Box veröffentlicht. Von zahlreichen Alben der vergangenen Jahrzehnte erscheinen Doppel-CD-Deluxe-Editionen, randvoll mit ruffen Mixen, gescheiterten Versuchen, mit hochinteressanten Blicken hinter die Kulissen des kreativen Arbeitsprozesses.
Zu dieser Unfertigkeit inmitten des Fertigen passt auch der Bedeutungsniedergang physikalischer Tonträger: Album-Einheiten zerbröseln immer mehr zu Einzelteilen, man lädt sich nur noch Songs auf den i-Pod, die man gleich mag, der Rest wird weggelassen oder wieder gelöscht. Zurück bleibt ein individuell konfektionierter Torso des ursprünglichen Gesamtwerks. Man kann das natürlich ebenso als eine individuell perfekt zusammengestellte Kollektion von Lieblingsmusik betrachten, je nach Laune. Unfertig ist sie aber im Sinne der angenommenen Intention des Musikers, ursprünglich aus seinen Songs eine fertige Albumeinheit konzipiert zu haben.
Auf Präsentationsportalen (myspace, youtube, last.fm, etc.) und Musik-Blogs stehen Videos und Songs in perfekten Navigationsumgebungen zur Verfügung, die so einfach und schnell zu bedienen sind, dass man die unperfekte Ton- und Bildqualität überhaupt nicht mehr als Mangel wahrnimmt. Von den Beatles erschien höchst offiziell Mitte der 1990er Jahre die umfangreiche „Anthology“-Serie. Nicht nur dort wurde dem Unfertigen viel Raum gelassen und mit dem Fertigen (nämlich den Originalveröffentlichungen) in Beziehung gesetzt. Bei den Beatles-Remaster von 2009 wurde sogar das Unfertige im fertigen Song hervorgehoben. Die Verspieler von Ringo, falsche Akkordwechsel, verpatzte Einsätze, knarrende Studiosessel, all das was im Geröll der originalen Produktion noch unterging, kommen jetzt kristallklar zum Vorschein. Die allgemein als ultimative Restauration des Beatles-Katalogs angesehene Remaster-Arbeit hebt das Unfertige im Fertigen hervor.
Mit der Einführung der DVD fand diese Entwicklung (unfertig + fertig) übrigens auch im Film statt. Bonusmaterial mit verworfenen, oft unfreiwillig komischen Szenen zerstückeln die Filmhandlung des fertigen Films in unfertige Sequenzen. Zum Teil bietet das Bonusmaterial sogar alternative Handlungsverläufe an. Aus der Summe des Gesamtfilms herausgeschnitten, stehen sie gleichbereichtigt neben dem eigentlichen Film, ja sie können sogar einen größeren Erkenntnis- und Unterhaltungswert besitzen als der fertige Film selbst.
Im Internet existieren unfertige Beta-Versionen von Programmen, die den Vollversionen zuvor kommen. Oder es werden Vollversionen spielerisch gleich „Beta-Version“ genannt (wie zum Beispiel die Website von Freitag.de).Von unzähligen unfertigen und ständig im Wandel begriffenen Texten in zahlreichen Blogs ganz abgesehen. Auf Wikipedia schließlich kann man sich endlos von unfertigen bis zu weniger unfertigen Versionen von Artikeln vor und zurück navigieren.
In Theatern, auf Tanzbühnen oder Konzertsälen sind öffentliche Proben oftmals feste Bestandteile im Aufführungsprogramm. Auch dort werden unfertige Prozesse aufgeführt, herausgerissen aus ihrem Zusammenhang. Und trotzdem diese Proben nicht „mehr als die Summe ihrer Teile“ sind, bieten sie doch hochinteressante Einblicke in Gestaltungsprozesse. Entsprechend wird darüber nicht selten journalistisch berichtet.
Castingshows sind Zelebrierungen des Unperfekten innerhalb eines perfekt durchgeplanten Fernsehformats.
In der BRIGITTE präsentieren neuerdings statt professioneller („perfekter“) Models aus der Leserschaft gecastete („nicht perfekte“) Amateure die Modestrecken. Models sind weiterhin in unmittelbarer Nachbarschaft auf den Anzeigenseiten zu sehen.
Falls sich auf dem Buchmarkt das digitale Buch durchsetzen wird, wird auch dort die Zahl öffentlich im Entstehen befindlicher Romane oder Erzählungen zunehmen. Man wird sich immer wieder die neuesten Entwicklungen und Veränderungen im Entstehungsprozess eines Romans gegen Entgeld herunterladen können. Man wird sich innerhalb des Entstehungsprozesses vor und zurück klicken können. Wahrscheinlich passiert das sogar in diesem Augenblick schon irgendwo. Hat Stephen King nicht in der Richtung schon was unternommen?
Es würden sicher noch einige andere Beispiele zu finden sein, wo sich dieses Schema wiederholt. Die Kulturindustrie leistet dem natürlich auch aus wirtschaftlichen Überlegungen Vorschub, denn in Krisen- oder Globalisierungszeiten ist es immer lohnender und preiswerter, nicht nur aus dem fertigen Produkt Kapital zu schlagen, sondern auch die während des Produktionsprozesses entstandenen, im ersten Anlauf nicht verwerteten Nebenprodukte einer profitablen Verwertung zuzuführen.
Aber zurück zur Improvisation in der Musik.
Vom unfertigen Kulturprodukt ist es nämlich gar nicht weit bis zu einer Eigenart frei improvisierter Musik, wenn sie in unbearbeiteter Version als Konserve verfügbar ist:
In der frei improvisierten Musik hört man große Teile der Musik als unfertigen Prozess, weil sie immer erst ein Motiv finden muss, auf welchem dann die Improvisateure ihre Kommunikation aufbauen. Musik findet sich dort erst, sie wird nicht schon vorgefunden (wie es in der Popmusik der Fall ist, die nur das Endergebnis, also die Endsumme, veröffentlicht). Wenn man Glück hat, entsteht daraus dann eine Phase im Improvisationsprozess, in der eine kommunikative Ebene gefunden wird (Motiv) und in der dann tatsächlich im Idealfall so etwas wie ein „Mehr als die Summe der Teile“ zu hören sein könnte.
Solch eine „Übersumme“ aus der Improvisation heraus hält aber nicht „ewig“ an, wie es ein komponierter, verdichteter (und vor allem guter) Popsong im klassischen Sinn suggerieren würde, sondern muss dann irgendwann wieder in Einzelteile zerfallen, sonst könnten die Improvisateure kein neues Motiv aus ihr entwickeln.
Man kann das übrigens auch umgekehrt betrachten: Reine improvisierte Musik wird dann zu „fertig“ komponierter (Pop-)Musik, wenn sie nachträglich bearbeitet wird.

Man höre dazu die Mehrfach-CD-Edition „The Complete On the Corner Sessions“ von Miles Davis, die noch den Prozess der Improvisation zeigt, bevor Produzent Teo Macero sich der Bänder annahm und sie am Schneidetisch zur originalen „On The Corner“-LP verdichtete und übersummierte. „On The Corner“ ist komponierte Musik (also „Popmusik“), die „Complete On The Corner Sessions “ dazu sind Improvisationen. Auch dies ist also wieder ein Beispiel, wie das Unfertige (der Arbeitsprozess/ die Improvisation) gleichberechtigt neben das Fertige (das Endergebnis/ die Popmusik) gestellt wird.
Und deswegen enthält eine ungekürzte Aufnahme improvisierte Musik – weil sie den ganzen Prozess von der Findung eines Motivs über dessen Zelebrierung bis zur Auflösung dokumentiert – zwangsläufig immer Unfertigkeiten und Spannungslöcher. Sie kann nicht vom Anfang bis zum Ende mehr als die Summe ihrer Teile sein. Sie gibt halt auch diejenige Musik preis, aus der sich eine größere Summe erst entwickeln könnte.
Und da das so ist, habe ich Schwierigkeiten, dem Konzept „Mehr als die Summe der Teile“ meine Sympathie zu geben, es also als Kriterium anzuerkennen. Ich sympathisiere eben auch mit der Preisgabe des ganzen Prozesses, auch wenn er schwache Phasen enthalten sollte . Deswegen ist für mich das Internet ein so faszinierendes Medium: Es zeigt Prozesse, statt Endergebnisse.
Kurz zur Platte von Fine, Metzger und Seru selbst:
Gerne hätte ich geschrieben, man müsse die erste Hälfte (also die erste Seite der LP) als notwendigen Entwicklungsschritt begreifen, aus dem dann zwangsläufig die zweite Hälfte als wahlweise Antwort oder Gegenpol oder Fortsetzung oder Widerlegung oder hinreißend schlüssiger Dramatisierung folgt. Tatsächlich kann man sich die erste Seite aber erstmal schenken. Andersrum wird ein Musikerlebnis draus: Ziehen Sie sich und ihre musikalischen Entdeckergeister durch die zweite Seite durch, hören Sie locker über Stellen hinweg, die Sie erstmal langweilen, heften Sie sich an die heftigeren Stellen.
Dazu bietet der Anfang von Seite Zwei eine gute Gelegenheit, wenn Paul Metzger auf seiner modifizierten Gitarre in das aufkommende Gewirr aus allerlei Gezimbele und Geklopfe hineinschrappt und Milo Fine und Davu Seru ihm ein spitzes Nagelbett bereiten, auf das sich Metzgers Aggression bequem machen kann. Dann wieder zerfällt das Bett in einzelne Nägel, und Metzger lässt seinen zwei Mitstreitern den Vortritt, nicht ohne ihnen noch ein paar insektizide Gitarrenlaute mitzugeben, die er wahrscheinlich erzeugt hat, indem er mit dem Fingernagel über die Saiten geratscht ist.
Lassen Sie Ihren Ohrapparat am schrillen Ton der drei Improvisateure nippen, gerne auch obszön lecken, und nehmen Sie dann, wenn Sie so richtig abgefüllt sind, die weniger spannenden Stellen zu sich wie einen etwas faden Tee, der aber immerhin noch so viel Qualität besitzt, dass Sie ihn sich mit etwas Fantasie schönschmecken können.
Ohne den faden Tee könnten Sie nämlich auf „Medusa’s Lair“ nicht an den guten Stellen lecken. Das Unfertig-Fade ist in der Improvistionsarbeit des Trios vom Fertig-Leckeren nicht zu trennen. Hört man Musik bei ihrem unbearbeiteten Entwicklungsprozess zu, versagt das Summenspiel völlig.
Ohne diese doch eigentlich von mir anfangs als „nicht besonders aufregend“ bezeichnete Platte der drei Herren aus Minneapolis hätte ich das womöglich gar nicht für mich herausgefunden.
Und so bin ich selbst auch durch einen Prozess hindurchgegangen, an dessen vorläufigem Ende steht: „Medusa’s Lair“ ist eine gute Platte. Die Beschäftigung mit ihr hat sie erst gut für mich gemacht. Und jetzt dämmert mir so langsam, wer die Summen produziert, die fälschlicherweise der Musik zugeschrieben werden: Ich. Wer sonst?

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