Poses
2001
Schon mit dem zweiten Album von Rufus Wainwright ging es los, dass ich fremdelte. So tief war der Eindruck, den sein erstes auf mich gemacht hat. Ich wollte exakt das gleiche Album nochmal haben! Dies ist eigentlich ein Grundproblem meiner Musikrezeption: Begeistert mich eine Platte, dann will ich im Prinzip, dass das Nachfolgealbum exakt genauso ist wie das erste (also das erste, das ich kennengelernt und an dem sich meine Begeisterung entflammt hat). Völlig unmöglich natürlich, denn wäre das Nachfolgealbum exakt wie das erste Album, dann wäre es ja auch das erste Album! In dieser stinkkonservativen Sicht liegt begründet, warum mich so viele zweite Alben überhaupt nicht mehr interessieren. Und bei Wainwright ist es erstmal genauso gewesen. Warum also erwähne ich hier „Poses“, ist es doch schließlich das zweite Album? Weil Wainwright eben so gut ist, dass er mich auch dort wieder von neuem total überzeugen, überrumpeln und hintenrum ins Herz stechen konnte. Freilich benötigte ich meine Zeit, bis ich das zulassen konnte, denn der Widerstand meiner konservativen Haltung war so groß (weil das erste Album von Wainwright so herausragend ist), dass ich enttäuscht war vom Nachfolger. Aber während dieser Zeit der Enttäuschung gingen anscheinend geheimnisvolle Dinge in mir vor. Es war im Nachhinein fast so, als musste sich mein Organismus erst langsam auf einen „anderen“ Wainwright einstellen, als suchte er offene Kanäle in der Zellmembran, als musste er sich irgendwie durchlässig und geschmeidig machen. Dieser Prozess verlief unmerklich. Als mein Organismus dann heimlich seine Vorbereitungen für die neue Platte von Rufus Wainwright abgeschlossen hatte, benötigte er nur eine Einzelheit, einen Katalysator – ein Melodiefitzelchen, eine Körper und Geist schwächende Erkältung, eine Wolke, die die Sonne verdunkelt, oder etwas anderes völlig banales oder kitschiges – und mein Widerstand war dahin. Was es genau war, kann ich nicht mehr sagen. Jedenfalls floss danach in kürzester Zeit die neue Wainwright in mich rein wie ein Sturzbach. Ich trank und trank, wochenlang, monatelang, ich kannte keine andere Musik mehr.
Das erste, was in mich floss, war der Titelsong „Poses“. Vielleicht nahm es so seinen Anfang. Ein ruhiges Klavierstück, mit Streicher und einem kleinen Chor versehen. Wainwright zerdehnt wie so oft die Verse ins Ungriffige hinein (ich glaube, deswegen mögen ihn viele nicht). Nichts berühmtes, dachte ich so, bis in einer schwachen Sekunde der Refrain in seiner ganzen Zartheit in mich versank wie Nosferatu/Kinski in die Halsschlagader eines schönen Körpers. Ich erkannte die totale emotionale Meisterschaft dieses gezogenen Refrains, seine kleinen Talfahrten, aus denen immer wieder ein höherer Berg bewältigt wird. Eine perfekte dramatische Struktur, auf sich aufbauend, sich wieder zurücknehmend, und doch unmerklich immer weiter dramatisierend. „Poses“, der Song, machte mich echt fertig im doppelten Sinn. „All this poses of classical torture ruined my mind like a snake in the orchard“, singt Wainwright. Eine klassische Tortur, fürwahr.Danach erschloss sich auch der Rest der Platte schnell. So gut wie jeder Song auf „Poses“ ist zu gewissen Zeiten mein Lieblingssong gewesen, ok, „Poses“ selbst thronte immer über allem, aber von ihm leiten sich viele andere ab: Andere Posen wie im „Greek Song“ zum Beispiel, mit seinem außerordentlichen Arrangement, das mich an China erinnert, an das Standbild eines altes chinesisches Orchester (oder an „Passage to India“ von David Lean); oder wie im laissez-faire-Stil (mit halbgeschlossenen Augen) treibenden „Shadows“ und dem langezogenen, genüßlichen „Out of this shadows …“ der Backing Vocals, das Wainwright beendet und weiterführt mit „ … comes the light“, undsoweiter.
„Poses“ wirkt nicht ganz so oberteuer arrangiert und verbarockiert wie andere Alben Wainwrights, mehr wie eine intime Version davon, wie ein verstecktes architektonisches Kleinod – ein Atrium auf den zweiten Blick, vielleicht hinter der kleinen Gartenanlage eines glamourösen Schwulenclubs in San Francisco gelegen – oder wie die Alternativinszenierung eines dramatischen Stoffs abseits der Salzburger Festspiele. Schaut man einmal genauer hin, ist „Poses“ immer noch Oper, nur spielt sie auf einer Bühne, von der aus man den Orchestergraben nicht sehen kann – und nur deswegen denkt man, er wäre gar nicht da. Aber eine Unaufmerksamkeit genügt, um tief hinein zu fallen.