Jetzt NEU! Gigantische Platten gesammelt besprochen. Ihre Aufgabe: Anti-Schrammel!
Und es ist mir ganz egal, ob es sich um Schrammelvariationen (lustig), Schrammelvariationen (grimmig), Schrammelvariationen (dramatisch) oder Schrammelvariationen (etc) handelt.
Da kommt Akustikgitarrenverroher John Fahey als Gegenpol, als geweihtes Wasser, als Silberkugel und Koblauchzehe in einem gerade recht. Denn an Fahey kann man erkennen, wie toll eine Kunst sein kann, die nur aus Variationen um Variationen ein und desselben Themas besteht. So schleudert John Fahey dem Schrammelscheiß ein entschiedenes, metallisch schmerzendes, in den tiefsten Kulturtiefen verankertes „Zoink!“ entgegen. Auf ca. 83 Platten. Das reicht allemal für einen Ewigkeitsplatz für „The Essential John Fahey“ und seine 82 Kumpel.
Auch ein Anti-Schrammel-Manifest: Das Weiße Album der Beatles. Einer besonderen schrammeltypische Eigenart wird hier entschieden entgengearbeitet: Statt eine halbe Idee schrammeltechnisch breitzutreten und in endlosen Refrains auslaufen zu lassen, dauern die besten Songs der Beatles in ihrer besten Phase (nämlich 1968) exakt so lange bis die Ideen reichen. Aus dem Ideenpool eines Tracks wie Glass Onion (2 min 14), Blackbird (2 min 15), Happiness is a warm gun (2 min 40), I Will (1 min 44), oder I’m so tired (2 min 2) haben typische Schrammelbands noch nicht mal ganze Alben gezimmert. Und warum haben die Beatles das machen können (mal abgesehen davon, dass sie Riesentalent hatten)? Weil sie an einem Punkt gelangt waren, wo sie keine Gruppeneinheit mehr bildeten, also sich nicht ihrer Gruppenzugehörigkeit duch kollektives Gemeinsamschrammeln versichern mussten, sondern sich als eigenständige Individuen behaupten wollten. So ist auf dem Album jeweils ein Songschreiber mit Begleitband zu hören. Es ging um den Einzelnen, nicht um die Gruppe. Mit dem White Album haben sich die Beatles getrennt. Exemplarisch getrennt für die unzähligen Gruppen heterosexueller junger Männer, die ihnen folgten und noch folgen werden, indem sie eine Band gründen, um darin als Heranwachsende eine soziale Zugehörigkeit und Identität zu finden – bis die individuellen Interessen und Entwicklungen den Verbund nach und nach lockern.
Wenn es ein Kunstwerk gibt, das die Entwicklung aus einer Gruppe heraus zum Individuum hin abbildet, mit all den bewussten und unbewussten kleinen Trennungen und Verletzungen, die so eine Entwicklung begleiten, mit all den Freisetzungen kreativer Energie, mit den Spiegelungen der vergangenen Leistungen und Geschichte des sozialen Verbunds, seiner Zuspitzung und der Ahnung, dass er letztendlich in einer notwendigen Zerstörung enden muss, um das Individuum freizulassen, dann ist es (für mich) das Weiße Album der Beatles. Vielleicht das erste Pop-Album der Geschichte, das einen als Jugendlichen mitnimmt und als Erwachsenen entlässt; das sich dieses Zusammenhangs noch nicht mal bewusst ist, sondern mittendrin steckt, auf sich Bezug nehmend („Glass Onion“) und wahllos andere Epochen zitierend, um von der eigenen Krise abzulenken (Ballroomsound auf „Honey Pie“, primitive Jahrmarktsmusik auf dem grauenhaften „Ob-La-Di, Ob-La-Da“, die große Las-Vegas-Showtreppe im wundervoll klebrigen „Good Night“), mit sehr intimen Momenten verbunden („Long Long, Long“, „I’m So Tired“), heterogen aneinandergepappt und individuell ausgestaltet. In seiner Zitierwut bis zum Anschlag postmodern (und das schon 1968, als man diesen Begriff in der Popmusik noch gar nicht verwendete). Dazu schrieb und schrie ausgerechnet Paul McCartney dann noch den brachialsten Popsong aller Zeiten („Helter Skelter“). Gerade diese Mischung aus persönlich gemeinter und durch künstliche und spielerische Identitäten und Figuren auf Distanz gehaltener Kunst ist reinste Pop-Kultur. Die Mutter aller Pop-Bands hat die Mutter aller Pop-Alben produziert. Ganz in weiß und ohne rote Rosen.
Einmal wird in dieser kleinen Zwischenkolumne aber doch geschrammelt. Sozusagen extra ein einziges Mal beispielhaft und zynisch weltklassegeschrammelt, nämlich auf dem gefährlich rollenden „Revolution Blues“, unseren amerikanischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen gewidmet, die am Stadtrand in Wohnwagentrailern wohnen und 25 Gewehre im Schrank haben, um die Population unten zu halten – „you never see us cause we don’t come around“. Patrioten, die Leute in fahrenden Autos erschießen. „So you’ll be good to me and I’ll be good to you“. Ein zynischer Schrammelstrom der Einschüchterung – „Well it’s so good to be here, sleep on your lawn/ Remember your guard dog?/ But I’m afraid that he is gone/ It was such a drag to hear him wining all night long uuuh“. Wir sind jetzt allerdings nicht mehr beim Weißen Album, sondern mit Neil Young „On The Beach“.
Der sonnige Titel täuscht, Neil Young geht es schlecht. Er steckt in einer tiefen persönlichen Krise. Danny Whitten, Freund und Mitspieler bei Crazy Horse, starb an einer Überdosis H, kurz nachdem ihn Young aus der Band geschmissen hatte. Young steckt zudem im Scheidungsschmerz. Er säuft und ist am Boden. Aus dieser Zeit stammt „Tonight’s The Night“, ein Zeugnis der Depression und des Hardcore-Jammerns. „On The Beach“ ist der Nachfolger. Die tiefen Einschnitte seiner Krise sind auf den letzten drei Songs des Albums zu hören – „On The Beach“, „Motion Pictures“, Ambulance Blues“, die ich als untrennbare Einheiten verstehe. Sie nehmen die ganze zweite LP-Seite ein und sind das bewegendste, was ich von Neil Young kenne (und ich kenne fast alles). Das Jammern verändert sich langsam in ein trauriges Konstatieren, das oft gerade dann einsetzt, wenn die Energie und der Widerstand aufgebraucht sind, wenn nicht mehr gegen die Krise angekämpft wird. Noch ist nichts überwunden, aber es ist genau der Punkt, der so tief ist, dass von hier aus wieder nach vorne geschaut wird.
Diese Phasen macht er in den drei Songs durch. Auf dem ersten Song „On The Beach“ wird noch kein Horizont gesehen, die Verse wollen sich erheben, fallen aber wieder zurück in die Hoffnungslosigkeit („Though my problems are meaningless/ that don’t make them go away“, „All my pictures are falling/ from the wall where I placed them yesterday“, „Oh, I’m living out here on the beach/ But those seagulls are still out of reach“, “The world is turning/ I hope it don’t turn away”, “I need a crowd of people/ But I can’t face them day to day”). Auf dem zweiten, dem kürzesten der drei, „Motion Picture“, sieht er sich in einer Übergangszone, die er nicht genau benennen kann. „Motion pictures on my TV screen/ A home away from home/ livin’ in between”, Dort aus dieser Twilight Zone kommt er von seinen Problemen langsam zu sich selbst zurück, er versucht sich vorsichtig an Lösungen: „Well, all those headlines, they just bore me now/ I’m deep inside myself, but I’ll get out somehow”, „I’d rather start all over again“, „All those people they got their dreams/ I got mine“. Auf dem letzten Stück schließlich beschwört er elegische Figuren, eine „Proud Isabella“ („Oh, Isabela, proud Isabela/ They tore you down/ and plowed you under/ You’re only real with your make-up on”), eine „Mother Goose“. Sie dienen ihm vielleicht als Möglichkeit, in der aufgebauten Distanz weicher zu fallen, falls er sich doch nicht mehr wird halten können. Aber er schafft es, wieder ein wenig an sich zu glauben und zeigt kämpferisch auf seine Kritiker, die damals seine letzten beiden Platten verrissen haben: „So all you critics sit alone/ You’re no better than me/ for what you’ve shown/ With your stomach pump and your hook and ladder dreams/ We could get together for some scenes“. Eine Mundharmonika brummt, eine Fiddle holt ganz tief Luft. Unaufgeregt entwickeln sich die drei Songs, meist sind es Hand Drums oder ein Bongo, die den Rhythmus geben. Es ist ruhig und schwer und erschöpft. Fließend und einmalig. Man spürt die neue Energie erst in weiter Ferne grollen. Neil Young singt wie sonst nie: tiefer, weil er mehr spricht als singt. Das intensivste, was ich an Musik und Text kenne.
Fortsetzung folgt. Den nächsten Anti-Schrammel könnte gerne Brinkmann zusammenstellen!