Meine kleine Serie „Musik in 2010“ nenne ich um in „Musik in 2010 für 2011“. Warum? Weil erstens im Januar 2011 auch Musik vor Januar 2011 gehört werden muss, denn man kann ja zu diesem frühen Zeitpunkt des Jahres nicht schon nur Musik aus 2011 hören – die Auswahl wäre viel zu klein. Zweitens will am 16. Januar 2011 kein Mensch mehr einen Text lesen, der sich ausschließlich vergangenheitsorientiert mit „Musik in 2010“ beschäftigt. Ist doch total unaktuell! Drittens klingt „Musik in 2010 auch für 2011“ etwas holpriger und damit auch etwas charmanter.
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So wie Rufus Wainwright in „Gay Messiah“ Pornofilme der 1970er Jahre verklärt, so verkläre ich kalifornische Punkmusik der 1970er Jahre. Eine Zeit der Unschuld, vor dem großen Sterben durch AIDS oder Drogen. Auch wenn es sich bestimmt nicht so unschuldig zugetragen hat, denn das wirkliche Leben ist immer härter, sonst müsste man es ja nicht verklären. Noch eine Gemeinsamkeit von Kalifornien-Porno und –Punk: Ich kenne von beiden nicht besonders viel – außer Black Flag, Dead Kennedys und John Holmes natürlich.
Trotz oder wegen meiner relativen Unkenntnis habe ich mir seit jeher California-Punk als ein Schlaraffenland aus Stakkato-Gesang, Alles-ist-möglich-Gefühl und angenehm unbritischem Anti-Posertum zusammenfantasiert. Immer mal wieder echote dabei in den letzten Jahrzehnten eine Zusammenstellung kalifornischer Punk-Bands von 1979 durch meinen Kopf, von der ich nur las und sie nie zu hören bekam – „Tooth And Nail“, von Punk-Urgestein Chris D. auf seinem eigenen Upsetter-Label veröffentlicht. Mein Verlangen, „Tooth And Nail“ zu besitzen, war recht schwach, mir reichte die irreale, mythische Erhöhung völlig aus, ich brauchte den Scheiß nicht auch noch zu hören, zumal die längst gestrichene LP sowieso nur zu Fantasiepreisen in einschlägigen Portalen zu haben war.
Ungefähr 100 Jahre nach der Erfindung des Internets kam ich alter Freizeitpunk schließlich im letzten Jahr endlich auf die Idee, mir „Tooth And Nail“ einfach mal völlig außerhalb bestehender Gesetze herunterzuladen. Ich fand sehr schnell einen Blog mit dem angemessenen Namen Punk Not Profit, der einen kratzigen LP-Rip zum Download bereitstellte, und nun konfrontierte ich einfach mal testweise die Musik von „Tooth And Nail“ mit meiner Wirklichkeit. Und die Überraschung: „Tooth And Nail“ hielt ihr stand.Sechs Bands, unter denen die Germs und Chris D.’s Flesheaters noch die bekanntesten sind, schreien insgesamt 16 Songs für heutige Ohren eigentlich recht melodiös heraus. Das US-Punk sich mehr an amerikanischen Sixties-Garagen-Bands orientierte (ich schreib mal stellvertretend: The Sonics), als es die britischen Punk-Kollegen taten, kommt auf „Tooth And Nails“ energisch und außerst kurzweilig zum Tragen.
Ebenfalls ein essenzieller Pluspunkt: Die dünne, zusammengedrängte Produktion – eine wohltuende Beleidigung für jeden HiFi-Fan. Kalifornische Punkmusik sollte nämlich nicht remastert werden. Sie ist ja quasi die Antithese dazu, sie muss zum Wegwerfen klingen. Remastern hieße dem Feind in die Hände spielen, würde die Ewigkeit konservieren, anstatt den Augenblick für ein paar zusammengeschnorrte Dollars billig und roh zu feiern. Mit leichtem Unbehagen denke ich daher an die diesjährige, von Jon Savage kuratierte Zusammenstellung „Black Hole“, die sich eine CD lang kalifornischer Punk-Musik der Jahre 1977-80 widmet. Sie remastert, was im Gegenteil entmastert gehört. Der Widerspruch, hier und jetzt dem Sound des Augenblicks das Wort zu reden und im Gegenzug eine über dreißig Jahre alte Platte abzufeiern, ist mir durchaus bewusst. Ich halte ihn locker aus.
Von der schneidend-dünnen Fuzz-Punk-Gitarre zur volltönenden Harfe ist es nur ein kleiner Schritt, abgesehen davon, dass es irrsinnig lange dauert, eine Harfe zu stimmen. Der Harfenist Rhodri Davies hat nicht nur das Stimmen einer Harfe thematisiert, sondern sogar gleichzeitig den Wunschtod einer jeden richtigen E-Gitarre – auf der Bühne zerlegt zu werden – seiner Exklusivität entrissen und in einer quälend langen, fünfstündigen Performance eine Harfe gefoltert, indem er ihre 47 Saiten nacheinander kappte und anzündete, um sie sodann wieder neu zu bespannen (Performance
Cut and Burn, Installation
Room Harp, Hatton Gallery, Newcastle upon Tyne). Der Harfenistin
Joanna Newsom liegt derlei Zerstörungswerk fern, komponiert sie doch in der Regel Musik, die gut zu ihrem Background als Tochter einer kalifornischen Intellektuellenfamilie passt.
Hat sie auf dem Vorgängeralbum „Ys“ (2006) noch den legendären Über-Arrangeur Van Dyke Parks Harfenklang und Kieksstimme in dicht gewebte, bilderreiche Streicherarrangements verpacken lassen, so schickt Joanna Newsom mit „Have One On Me“ (2010) ein faszinierend unübersichtliches Triple-Album nach. Viel Platz lassen diesmal die spärlichen Arrangements, die um ein kleines Kammerensemble aus Klavier, Perkussion und dem ein oder anderen Blech- und Zupfinstrument kreisen, wenn sich die Newsom nicht gleich ganz auf ihr Solospiel konzentriert.
Die Lücke im Ton fordert Konzentration – diese alte Faustregel (die ich mir gerade ausgedacht habe) findet auf „Have One On Me“ ihre Bestätigung. Wer aber hat noch die Zeit, sich ein langgezogenes, über große Strecken refrainloses Werk anzuhören, das zudem nicht selten harft, harft und nochmals harft? Jeder – vorausgesetzt man kappt alle binären Zeitfresser-Accounts und zwingt sich mental entkleidet und offline in Joanna Newsoms Musik hinein. Zum simplen Drüberhören, während man gleichzeitig 140 Twitter-Zeichen vollplappert, ist „Have One On Me“ nicht gemacht. Warum auch in einem Satz sagen, was man in einem Roman ausdrücken kann? Und so ist „Have One On Me“ ein Zeitschenker-Album, von dem ich mich immer wieder gerne in den Mono-Tasking-Modus zurückversetzen lasse.
Den epischen Ansatz ihrer akustischen Kunst hat Joanna Newsom übrigens maßgeblich unter dem Einfluss von
Roy Harpers „Stormcock“ (1971) entwickelt, ihr „favourite record of all time“, wie man in der WIRE lesen konnte. Flugs besorgte ich mir besagtes Album und konnte sofort verstehen, warum die Newsom so wählte: Harper entwickelt auf „Stormcock“ lange, mit Akustikgitarre grundierte Songs, an entscheidenden Stellen mit Streichern, Gesangsschichten oder einem Jimmy-Page-Solo beschickt. Harpers Stimme ist kräftig und modulationsfähig. Sie erinnert zum einen in den etwas höheren Tonlagen an David Bowie, wie der zu „Hunky Dory“–Zeiten manchmal stimmlich zum Drama ansetzt, dann wieder verliert sie sich ähnlich instinktsicher und konzentriert, wie es Tim Buckley in seinen strafferen Stücken vermochte. Kann sich noch jemand an den Gesang auf „Have A Cigar“ von Pink Floyd erinnern? Das ist Roy Harper. Das Songwriting ist vom Feinsten, keine Sekunde ist hier trotz der Länge der vier Songs – keins unter sieben Minuten – überflüssig. Ganz tolles Album. Es kann doch immer wieder sehr lohnend sein, Einflüsse geschätzter Kunstschaffender wie Joanna Newsom zurückzuverfolgen.
Musikbeispiele auf einschlägigen Portalen.
Teil vier folgt demnächst in diesem Kino. Dann mit vielen Kurzfilmen, statt mit wenigen Spielfilmen wie bisher. Unter anderem dabei: Neil Young und Überraschungsgäste.