Teil zwei meines kleinen, zusammengezurrten Rundumschlags zu Musik in (und nicht nur aus) 2010.
Diesmal mit Lauten und Dröhnen.
CATHERINE CHRISTER HENNIX the electric harpsichord
Der belgische Lautenspieler Jozef Van Wissem vermochte es, mich in einem Augenblick akuten Berufsstresses augenblicklich mit den ersten Tönen von „A Priori“ (2008) mental derart notzubremsen, dass mir plötzlich mein gesamtes augenblickliches Tun und Werden völlig absurd vorkam. Dafür und für seine dunkle, reduzierte und fernzeitige Kunst des Lautenspiels zwischen Mittelalter und Minimalismus der Moderne habe ich ihm sehr zu danken. „A Priori“ ist auf ubuweb.org anzuhören, dem Portal für avantgardistische Kunst jedweder Couleur, was immer sich dahinter auch verbergen mag. Ich glaube, es ist sogar legal.
Bis vor Kurzem dort auch zu hören, bis es schließlich offiziell veröffentlicht wurde: „The Electric Harpsichord“ von Catherine Christer Hennix, ihres Zeichens Philosophin, Elektronik-Minimalistin, Jazz-Drummerin und zeitweilige Mathe-Professorin aus Schweden. Dass die Quantenphysik und ihre eigenartigen Unwahrscheinlichkeitsgesetze so manchen strammen Naturwissenschaftler aus der Bahn des materiellen Denkens geworfen hat (oder gerade besonders tief in es hinein), ist spätestens seit Niels Bohr („Wer von der Quantenphysik nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden“) und Erwin Schrödinger bekannt. Letzterer wandte sich irgendwann dem Hinduismus zu, auch weil er in ihm die Quantenvorstellung am ehesten repräsentiert sah. Dass man darüber hinaus aber auch versuchen kann, aus den Skalen eines Tambura spielenden indischen Gurus, zusammen mit den trockenen Programmierformeln eines Sinuswellen-Drones, auf dem elektrischen Cembalo das Vibrieren aller Atome, Nicht-Atome und des restlichen Universums erfahrbar zu machen, hat mein Entdeckerherz nochmal ganz besonders berührt.
Ob es Catherine Christer Hennix während ihrer einzigen Performance von „The Electric Harpsichord“ – am 23. März 1976 im Stockholmer Moderna Museet – wirklich gelang, das ubiquitäre Zittern – aus dem einer neueren Quantentheorie zufolge das Universum und alle Materie hervorgegangen ist – ansatzweise abzubilden, sei mal dahingestellt. In der richtigen Lautstärke gehört, können einen diese knapp 26 Minuten Sound aber schon ahnen lassen, wie es sich für einen Physiker angefühlt haben mag, als ihm, den Gesetzen der Quantenphysik gewahr werdend, „der Boden unter den Füßen weggerissen“ (Albert Einstein) wurde.
Das italienische Label „die Schachtel“ hat „The Electric Harpsichord“ im vergangenen Jahr in einer taschenbuchgroßen, silbrig matt glänzenden Box erstmals offiziell veröffentlicht. Flankiert von einem erläuternden Text von Philosoph und Geiger Henry Flynt, zwei Gedichten von Drone-Urgestein LaMonte Young (in dessen New Yorker Wohnung Hennix 1969 eine musikalische Initialzündung erlebte, als sie sich mehrere Tage einem Youngschen Drone aussetzte, der unaufhörlich durch die Räume surrte) und einer dem Sinuswellen-Drone zugrunde liegenden Formelsammlung. Mein Lebensplan sieht vor, mich erst in etwa fünfzehn Jahren mit der Formelsammlung zu beschäftigen, da ich sie im Moment für völlig uninteressant halte. Der Text von Flynt dagegen ist aufschlussreich, beleuchtet er doch neben der Entstehungsgeschichte von „The Electric Harpsichord“ auch einige biographische Details aus Hennix’ Leben. In Anbetracht der zitternden, seltsam zarten Wucht der universellen Sinuskurven-Dröhnung aber kann das Wort dem Sound nichts Wesentliches hinzufügen. Frau Hennix empfiehlt übrigens ein Hören bei 100 Dezibel, was knapp einer Autohupe entspricht.
Im Auto habe ich denn auch so manches Mal das geballte vibrierende Monster von „Electric Harpsichord“ von der Leine gelassen und meine Moleküle verwirrt und mit Staunen durchsirren lassen. Für die Ohren ungefähr das, was für die Augen ein langer, ungemilderter Blick in die pralle Sonne bewirkt: Kurzwellige, helle Explosionen der Sinne, die auch vor Erscheinungen nicht halt machen. Am Anfang erschuf Gott die Vibration. Wer hätte das gedacht?
Und Afrika erschuf den Vuvuzela-Drone. Das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2010 am 11. Juni in Südafrika bot die Bühne für ein Setting, das sich Drone-Minimalist LaMonte Young oder Vokal- und Klangflächenkomponist György Ligeti nicht mal im Traum ausgedacht hätte: Ungefähr 60000 Menschen blasen gleichzeitig zweimal 45 Minuten in ungefähr 60000 Plastiktröten und erzeugen einen sehr lauten, gleichbleibenden, um die eigene Achse irisierenden, im Stadionrund vielfach gespiegelten Brummton.
Zum Glück hatten die westlichen Übertragungsstationen beim Eröffnungsspiel noch nicht raus, wie sie diesen gewaltigen Monoakkord mittels Mikrophonfilter wieder in einzelne, abgeschwächte Trötentöne verharmlosen konnten. Und so bekamen hunderte Millionen Menschen eine mächtige, sich unbedingt Gehör verschaffen wollende Musik in ihre Medienträger eingespeist, der sie sich sonst nie und nimmer ausgesetzt hätten. Die usurpatorische Kraft des Vuvuzela-Drones ließen die Sendeanstalten schließlich im Laufe der WM zu einem Winseln herunterfiltern – unter dankbarem Klatschen der meisten westlichen Stubenhocker vor den Flachbildschirmen.
Merke: Rhythmus und Drone als dauerinsistierende Elemente in der Musik rütteln an den Verhältnissen, sie werden daher von den Bewahrern des Status Quo gefiltert und zensiert. Melodie dagegen ist mit den Verhältnissen zufrieden und richtet sich buchstäblich harmonisch in ihnen ein. Nie würde eine Melodie zensiert werden!
Nach der Zensur kommt dann meist das Verbot. Folgerichtig verbot der europäische Fußballverband UEFA ab der Saison 2010/2011 den Gebrauch von Vuvuzelas in den Stadien während der Spiele in allen UEFA-Wettbewerben.
Keine Musik hat mich im letzten Jahr unmittelbar stärker beeindruckt als der Vuvuzela-Drone während des ersten Spiels der Fußball-WM 2010.
Teil eins: hier