2024-10-15

MARY HALVORSON’S CODE GIRL schwankt

[Artlessly Falling] 2020 |

Rober Wyatts Stimme selbst ist ja schon ein Gedicht. Nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch phonetisch in seiner Art, Silben zu betonen und in Traurigkeit verschmelzen zu lassen. Gleichzeitig aber transportierend, dass man über Kenntnisse zum Trauersujet verfügt, also nicht in Unbegreiflichkeit trauert.

Aber Robert Wyatt ist hier nicht die Hauptperson. Er wurde nur von der Jazz-Gitarristin Mary Halvorson angefragt, ob er nicht vielleicht aus seinem selbstgewählten Ruhestand heraus doch noch mal drei Texte einsprechen/singen möchte. Offenbar gefiel Wyatt, was er da in Ton bringen sollte. Halvorson hat es ihm leicht gemacht, weil der Ausgangspunkt der Kompositionen von Artlessly Falling eben sich passend trifft mit dem Ausgangspunkt von Wyatts einmaligem Gesang: Dem Gedicht.

Oder den GedichtEN vielmehr. Denn Mary Halvorson hat Gedichte geschrieben oder ausgewählt, deren Metren und Strukturen als Vorgabe dienen, an denen sich entlangassoziiert und -komponiert wird. Also ein abgesteckter Rahmen, der auf einem Stück Papier Platz hat. Mir kommt diese Art der Strukturgabe auf kleinstem Raum wie eine Metapher der pandemischen Zeit vor, in der Räume immer enger zu werden scheinen und gleichzeitig die Tage für viele Menschen immer weniger strukturell getaktet. Tagesabläufe verwischen, Uhrzeiten werden nicht mehr richtig eingeschätzt, Starren auf einen Punkt übernimmt Schauen in die Ferne. Ein kunstloses Fallen fürwahr. Warum also nicht auf ein Blatt starren, diese Augenblicke nutzen und in einem Gedicht etwas konzentrieren, das dann wieder mit anderen zusammen zu Interaktionen führen kann? Diesen kunstlosen Zustand wieder zu seiner Überwindung nutzen?

Mary Halvorson’s Gitarrenspiel passt gut zu den schwankenden Eindrücken der aus den Fugen geratenen Abläufe. Ihr Spiel ist durchsetzt von plötzlichen Pitch-Änderungen, Geschwindigkeitsschwankungen und Zeitlöchern, in die ein Ton absackt, als würde der Boden plötzlich nachgeben. Und ihre Band, eben Mary Halvorson’s CODE GIRL, darf sich dann dankbar einen geregelten Tagesablauf daran entlang erspielen. Mit allen Unwägbarkeiten, die sie in die Kompositionen pflanzen darf, wie es sich für eine Jazz-Band (Tenorsax, Trompete, Gitarre, Bass, Drums) eben gehört und wie sie sich auch in den Gedichten selber spiegeln. Diejenigen Tracks, die nicht von Robert Wyatt gesungen werden, werden Amirtha Kidambi zur Interpretation überlassen. Hatte ich anfangs noch etwas gefremdelt mit ihrem Gesang, der mehr am lautmalerischen Jazz geschult ist, mit Silbendehnungen arbeitet – wo Wyatt seine traurigen Töne einfach stehen lässt – hatte ich dann irgendwann den Dreh raus, schätzte die Anteilnahme ihrer klassisch geschulten Stimme als notwendiges Gegengewicht, damit es hier nicht nostalgisch wird. Vielleicht ein Kernmerkmal von Artlessly Falling: Erinnerungen branden auf, als wären sie von der Gegenwart geschickt und müssen sich ihr stellen.

Und so behandelt Artlessly Fallen auch Alarmzeichen und aufgeschreckte Nerven. Kindheitserinnerungen, Erinnerungsblitze eines Standbilds im Comicformat. Die sich plötzlich dunkel einfärben, in Krisen abrutschen, „Wunschknochen aus dem Leben gebissen“ heißt es einmal. Ahnungen formulieren (wir wissen welche): Menschen werden sterben, sie dürfen also nicht krank werden! Obacht walten lassen. Es verdunkelt sich viel in den Versen, Gedanken spannen sich zu Ängsten. Dann brennt es gefährlich in Orange. Eindrücke aus dem Hinterland. In grauer Kälte werden Wunden mit Salz gerieben. Schon härterer lyrischer Stoff, der der Musik eine zwar konsistente, aber trotzdem reaktionsbereite elastische Konsistenz gibt. Die Gedanken in den Gedichten, sie halten sich hier an der Musik fest, die zwar schwankt, aber dadurch auch nicht bricht.