2024-04-28

RS Top 500 | überflugsgedanken

Der deutsche Ableger des Rolling Stone-Magazins wird seit der aktuellen Ausgabe (August 2023) nicht mehr über den Springer Verlag vertrieben. Da bot es sich wohl an, zur Feier des Tages gleich mal die Liste der “500 besten Alben aller Zeiten” eines Updates zu unterziehen, quasi um den Springer-Kram hinter sich zu lassen und einen herzhaften Schnitt zu ziehen. Die 135 Juror:innen aus dem weiten Bereich der deutschsprachigen Kulturlandschaft wurden dafür zwar schon vor anderthalb Jahren angefragt, aber ich nehme mir trotzdem mal heraus, die neue Liste dahingehend zu interpretieren, dass ein bisschen was Altes hinter sich gelassen wurde, um ein bisschen was Neues zu beginnen.

Natürlich steht und fällt so eine Gesamtliste mit der Gesamtheit der Listenersteller:innen, aber auch deren Auswahl ist ja wieder ein Spiegel des Rolling Stone, der sich bemühte, nicht nur die alten weißen Männer zu Wort kommen zu lassen, sondern durch eine diverser aufgestellte Juror:innenschaft eine größere Bandbreite abzubilden.

Die 500er Liste des Rolling Stone-Magazins (Ausgabe Deutschland) ist dadurch zumindest mal ein bisschen anders geworden und versammelt nicht immer nur die alten Erkenntnisse (DylanBeatlesStonesSpringsteen) auf den vorderen Plätzen. Die kommen zwar auch vor, aber sie werden von bisher weniger ausgestellten Alben eingehegt und ihres bisherigen götzengleichen Daseins beraubt. Eine Entwicklung, die sich gut anfühlt. Dass eigene Favoriten gar nicht vorkommen, ist geschenkt. Ich hätte mir noch mehr Texte und Kurztexte gewünscht, die ein bisschen origineller sind und nicht die üblichen Hülsen bereithalten: „Sie waren ihr eigenes Genre“, „aus einem Füllhorn…“, „unfassbar“, „unsterbliche“ Riffs, „famos“.

Marvin Gayes What’s Going On mit Sgt. Pepper zu vergleichen, wie es Sebastian Zabel macht („What’s Going On ist so etwas wie das Sgt. Pepper’s des Soul“), finde ich etwas unscharf, weil die Stimmungen der beiden Alben sich inhaltlich/konzeptionell doch erheblich unterscheiden. Pepper ist kein dichtes, austariertes Gewebe, eher eine Spielwiese verschiedener Experimente, eine teils lustvolle, teils ernste Aneignung des Studios mit Schabernack und zeitweise überlebensgroßer Weltklasse. What’s Going On ist eher wie Pet Sounds von den Beach Boys: Ein in sich einheitliches, aufwändig geführtes Soundbild, Fragen stellend, Verlustthemen einbringend, die mal innere als auch äußere Veränderungen und die Trauer und Melancholie um ihre Bewusstwerdung thematisieren. Trotzdem What’s Going On aber ein sehr gutes, beeindruckend dichtes Werk ist, habe ich es kaum einmal von vorne bis hinten durchhören wollen. Mir geht es mit Pet Sounds auch so. Toll, aber nicht tollstens. Vielleicht eben genau dadurch passende Konsens-Alben.

Gut, dass es ein ‘neueres’ Album (Back To Black von Amy Winehouse) die Top 10 geschafft hat. Erstmal ist Amy Winehouse eine ganz ungewöhnlich gute Sängerin gewesen, ich würde sogar sagen, sie war eine wahnsinnig gute Sängerin, die nie nach Gesangsausbildung klang, sondern sich Schlieren und Schleifen erlaubte, immer das Gefühl vermittelte, es warten große schwarze Löcher, sich vom Song überholen lassen konnte und ganz locker dabei blieb, dann wieder mit Leichtigkeit aufholte, sich quasi intuitiv um die Musik schlang. Leichtigkeit am Abgrund, das war die Distanz, die sie vermittelte. Große Kunst, wenn man mich fragt. Und dann haben zudem auf Back To Black viele Komponenten (Gesang, Songs, Produktion, Tradition, Ausstrahlung) sehr gut ineinander gegriffen. Am Ende basiert Rockmusik oder Soul oder Folk auf einer Tradition plus X, wobei das X oft einfach die persönliche Färbung des Individuums ist. Das Album steht völlig zu Recht da oben, auch wenn der Vorwurf des Soul-Recyclens der 60er/70er nicht ganz unrichtig ist, weil eben als Einfluss und Blaupause leicht zu erkennen. Manchmal gibt aber eben eine zeitgemäße Produktion den Ausschlag für die Wahl, klingt frischer und heutiger, also passender zum Soundtrack des eigenen Lebens. Daher gut nachvollziehbar, warum mit Back To Black ein aktuelleres Angebot weit vorne landete. Vor diesem Hintergrund ist ja auch z.B. Solange zu Recht in der Liste gelandet (Platz 94 mit A Seat At The Table).

Insgesamt eine schöne Sommerlektüre zum Aufregen und Zustimmen. Wir alle wissen für uns selbst, wer alles fehlt und ungerecht behandelt worden ist. Die Liste ist online nicht verfügbar, man muss die Ausgabe also kaufen. Kann man ja jetzt mal machen, wo doch Springer nicht mehr profitiert.

Weitere Überflugsgedanken:

Unfreiwillig komisch: „Ihre Bandbreite (auf Analogbändern) ist unermesslich“ (Beatles/White Album).

Schön ist ein Satz wie „Die Konstellation knistert überlaut“ (Miles Davis, Kind Of Blue).

Dass Electric Ladyland ein Rock-Album ist, „das dabei ist, sich in etwas ganz anderes zu verwandeln“, ist eine feine Beobachtung von David Stubbs (der damit zitiert wird).

Auf den Punkt gebracht auch der Anfang zu Bitches Brew: „James Brown und Karlheinz Stockhausen? Okay!“. Mehr hätt’s gar nicht gebraucht.

Ich mag auch nach wie vor die Formulierung „grundstürzend“, weil sie klingt wie aus einem experimentellen Gedicht entnommen (was man dem englischen Original ‚groundbreaking‘ eher nicht anhört).

Brasilien kommt kaum vor. Immerhin und völlig zu Recht aber die Os Mutantes. Ich vermute, Gereon Klug und Detlef Diederichsen haben Construcao von Chico Buarque auf Platz 1 gesetzt, und nur deswegen ist es (verdient) in der Liste gelandet.

Reggae ist ebenfalls selten, aber ich freue mich, dass es Harry Mudie Meets King Tubby’sIn Dub Conference, Volume One in die Liste geschafft hat (auch hier vermute ich eine hohe Platzierung bei mindestens Gereon Klug). Keine einzige Produktion von Lee Perry im Rennen (… dachte ich, aber der gute Gereon hat mich korrigiert: “Heart Of The Congos” ist dabei).

Nicos vollgesogenes Chelsea Girl landet vor der eisigen Wüstenei The Marble Index. Eine Entscheidung gegen die Angst (die doch der beste Freund sein soll).

Captain Beefheart & His Magic Bands Trout Mask Replica: Soll laut Verfasser wie ein „riesiger kosmischer Unfall“ sein: „Man kann nicht weggehen, weghören“. Die allermeisten Menschen haben nach acht Sekunden Eröffnungstrack „Frownland“ genau das getan und SOFORT weggehört. Bevor ihnen Hören und Sehen verging.

Vampire Weekends Modern Vampire Of The City: „Gibt es ein anderes Album, das so überbordend experimentell ist und sogleich so catchy?“ Oh ja, da gibt es noch ein paar. Immer gefährlich, wenn man mit Absolutheitsaussagen operiert.

Young Marble GiantsColossal Youth: „Ein Klopfen, ein Basslauf, eine Keyboardmelodie und dazu der zarte Gesang“, und die omnipräsente rhythmisch-minimalistische Gitarre sollte man dabei aber besser nicht vergessen (besonders sie ist das Rollenmodell für The XX gewesen).

Burial: „Burials Debut ist von einer Melancholie durchzogen, wie man sie auch in leeren Nachbussen findet“. Mit der schönste treffende Satz, den ich in den Top 500 finden konnte.

Kann David Bowie nicht wenigstens mal ein Tintenfisch sein?

(continued)

9 Gedanken zu “RS Top 500 | überflugsgedanken

  1. Was noch geklappt hat (neben Mudie): Die dritte tolle Dexys reinzuhieven! Mithilfe zweier Mitjuroren gelang das. Andere Lieblinge wie Keith Hudson, The Deep Freeze Mice, Luca, Scotty, Dackelblut, Rhythm & Sound, The Saints, Universal Congress Of,
    Die Stars, Helge Schneider, John Barry, Jorge Ben, Francois de Roubaix und natürlich Ennio, Felt, Brezel Göring (den ich reinwählte, obwohl die Platte noch gar nicht erschienen war), Tom Jobim, Ata Kak, John Hartford oder Gino Paoli gelang das nicht.
    Von Perry ist übrigens doch eine drin: Die Congos!

    1. Das klingt nach einer extrem schönen Liste, Gereon! Die Congos habe ich übersehen, hmpf. Danke für den Hinweis.

  2. Ich werde die 500er-Liste einfach umarbeiten und neu schreiben. Dauert hat nur. Schritt 1: Die NWW-Liste abarbeiten.

    1. Wenn du die Liste umschreiben solltest, würde bestimmt nichts schiefgehen. Aber was zur Hölle bedeutet NWW?

      1. Na, die NURSE WITH WOUND-Liste!
        https://en.wikipedia.org/wiki/Nurse_with_Wound_list
        Nie durchgewalkt?

        Released 40 years ago, in 1979, and expanded in 1980, the “Nurse With Wound List” has cast a long, indelible shadow for experimental music fans and record collectors. A jumble of 291 artist names — all presented without explanation nor starting points — it is at once a broken primer, a shopping list, a scavenger hunt, a pre-internet listicle without context, a myth, some homework, a still-challenging wall of ideas.
        It was compiled by the three members of industrial band Nurse With Wound and inserted in their debut album, 1979’s Chance Meeting On A Dissecting Table Of A Sewing Machine And An Umbrella. Though many of NWW’s contemporaries were bluntly confrontational (SPK, Non, Whitehouse), others did have art bona fides (Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire). NWW, however, were almost academic in their approach to tracing the lineage between art theory and punk provocation, between music and noise. The album title comes from Comte de Lautréamont’s 1860’s Surrealist literature landmark Les Chants De Maldoror. The album is dedicated to Futurist Luigi Russolo, whose 1913 manifesto The Art Of Noises is basically the “Rocket 88″ of making a hideous racket. The sleeve notes were dedicated to Canada’s Nihilist Spasm Band, whose 1968 record No Record approached and destroyed the psychedelic era through sheer chaos.

        Naturally, the artists on the NWW list connect the dots between 20 years of recorded music that serve as signposts to the harsh, metallic, clanging jumble within the grooves: the occasionally violent sounds of electroacoustic music’s pioneers, wild bursts of free improvisation, heady prog, jazz-rock, experimental electronic music, collage art, hypnotic treks through German krautrock and Japanese psychedelia, UK confreres in punk, post-punk and industrial and Chilean outsider rocker Alvaro who croons “I drink my own sperrrrrrm” on his 1977 debut, Drinkin My Own Sperm. Nurse With Wound — Steven Stapleton, John Fothergill, and Herman Pathak — were not just musicians and theorists, but record collectors, combing stores across Europe. Their collection of names range from the obvious (Velvet Underground, Captain Beefheart, Yoko Ono, Can) to the nearly impossible-to-find (supremely heavy German crew Sphinx Tush only released one song, in two live versions, in 1970).
        It’s by no means comprehensive (with 40 years of hindsight it’s evident that it could use Pauline Oliveros, Popul Vuh, Michel Chion, Eliane Radigue, and Rune Lindblad). It’s by no means all recommended (drawing the lines between Germany’s forward-thinking krautrock pioneers and Germany’s most indulgent prog wanks is a job for Julian Cope and/or someone with more patience than I). But it remains a valuable tool for everything from deep dives to discovered to dabbles to Discogs. Rick Potts of the Los Angeles Free Music Society told the LA Weekly that people still ask him about it.

        Its size, scope, and whimsically curatorial lean make it absolutely useless as a “canon.” However, 40 years later, the phrase “Nurse With Wound List” still carries weight as a look inside the brain of three weirdo visionaries who linked experimental music’s past while building its future. Naturally, the current vinyl boom has moved many of these records from obscurity to accessibility, and the phrase “Nurse With Wound List” is an important signpost in the advertising copy.

          1. Äh, ist ein bisschen viel, zugegeben. Ich warte erstmal ab, bis du sie umgeschrieben hast. 🙂

  3. Mache sie poppiger und mehr Platten mit singender Säge, Theremin oder Whistling rein, da gebricht es der Liste eindeutig dran.

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